Neunter Gesang
                         
                        „Brenne müsst Ihr, Männer, brenne!“
                        Heute ist er überflüssig
                        dieser Kampfruf Herbergers
                        denn seine Männer glühen längst
                        vor dem großen Augenblick
                        der ihr Lebensschicksal wird
                        am vierten Juli Vierundfünfzig
                        gegen Ungarns „Wunderelf“
                        das absolute Maß der Zeit
                         
                        Traumhaft sind die eingespielt
                        als Angehörige der Armee
                        Der einzige Dienst ist der am Ball
                        sie lassen bloß die Kugel rollen
                        tagein tagaus, von früh bis spät
                        Mehr wird von Ihnen nicht verlangt
                        Auch in der Schweiz lebt es sich munter
                        Sie flanieren durch die Straßen
                        gönnen sich ihre Zigarettchen
                        und zucken nicht bei einem Bier
                        wenn es ein hübsches Mädel bringt
                         
                        Wen sollen sie fürchten auf der Welt?
                        Seit gut vier Jahren ungeschlagen
                        auf allen Plätzen um den Globus
                        Olympiasieger Zweiundfünfzig
                        das stolze England weggeputzt
                        auf Wembleys heiligem Rasensamt
                        Das hatte keiner noch geschafft
                        Und dann: Die „Sonnenschlacht“ von Basel
                        hier in der Schweiz vor vierzehn Tagen
                        Der leichte Sieg ist unvergessen
                        bei den Ungarn, bei den Deutschen
                        in allen Köpfen sitzt er fest
                         
                        „Brenne müßt Ihr, Männer, brenne!“
                        Doch wie sieht ein Brennen aus
                        wenn es schon seit Stunden regnet?
                        Wie sehnlich haben sie gewartet
                        die deutschen Spieler, seit dem Morgen
                        daß sich endlich Wolken bilden
                        und für sie den Rasen tränken
                        schnell zu machen für ihr Spiel
                        Seit Jahrzehnten weiß der Mythos
                        daß am Tag des Berner Endspiels
                        ein „Fritz Walter-Wetter“ herrschte
                        - „Fritz sei Wedder“: Das ist Regen -
                        und hob die Stimmung mächtig an
                        beim ungesetzten Außenseiter
                        zum ersten Mal in einem Endspiel
                        international ein Niemand
                        auf den im Ernst kein Fachmann schwor
                        Londons Zockbüros längst dicht
                        wenn wer auf Ungarn wetten wollte
                         
                        Bloß der Regen, Fritz sei Wedder
                        Daran halten sie sich fest
                        als sie das Spielfeld jetzt betreten
                        siebzehn Uhr, in Reih und Glied
                        vorne Puskas und Fritz Walter
                        Wenn man sich die beiden anschaut
                        wie sie die ersten Schritte setzen
                        auf den regennassen Rasen
                        sind die Rollen klar verteilt
                        Ein Schritt voran geht Major Puskas
                        ein untersetztes Kraftpaket
                        mit muskelprallen Oberschenkeln
                        Rund wie die Sonne, selbst im Regen
                        füllt ein Lachen sein Gesicht
                        das trübt kein Zweifel an dem Sieg
                        So sieht Selbstbewußtsein aus!
                         
                        Dahinter kommt Fritz Walter. Zierlich
                        Ein schlanker Mann. Die Stirn in Falten
                        Geradeaus den Blick gerichtet
                        ins Leere hin. Er scheint zu zögern
                        Ein Grübler eher, in Gedanken
                        Soll man glauben, daß der brennt?
                        Müßte ein inneres Brennen sein
                        das von außen keiner wahrnimmt
                         
                        Noch breiter darf gleich Puskas strahlen
                        puska heißt zu Recht „Gewehr“
                        in seiner schönen fremden Sprache
                        Nach sechs Minuten schießt er ein
                        reißt die Arme hoch, bleibt stehen
                        wird von den Seinen abgeholt
                        zum Anstoßkreis. Ein Triumphator
                        Und als es, zwei Minuten später
                        wieder bei den Deutschen klingelt
                        weil Kohlmeyer und Turek patzen
                        wird manche böse Ahnung wach
                        Ob Hitzeschlacht, ob Fritz sei Wedder
                        Die „Wunderelf“ scheint nicht zu stoppen
                        von diesem biederen Außenseiter
                         
                        Dem „Boss“ dagegen liegen Ungarn
                        packt sich den Ball nach diesem Rückschlag
                        haut ihn dem Grosics auf den Kasten
                        Er kommt nicht durch, der Ball bleibt hängen
                        Da rennt mit Riesenschritten Morlock
                        wirft sich in die Bahn des Leders
                        sein rechtes Bein wird lang und länger
                        rutscht auf dem regenglatten Rasen
                        mit dem linken Knie, halb liegend
                        rutscht und rutscht, gewinnt an Fahrt –
                        Mit dem Rand der großen Zehe
                        erwischt er gerade noch die Kugel
                        und schiebt sie in die Maschen rein
                        Fritz sei Wedder! Kein Gerede
                         
                        Nein. Heute soll’s kein Basel geben
                        Die Deutschen haben Blut geleckt
                        (soll man nicht besser „Regen“ sagen?)
                        Ecke von links. Fritz Walters Sache
                        eine von den schärfsten Waffen
                        Mit viel Effet zum langen Pfosten
                        weit über Grosics’ Faust gehoben
                        in den Ecken sichern zwei
                        Der Ball fällt runter. Rahn steht frei
                        Mit Dropkick faßt er sich ein Herz
                        und drischt ihn herzlos just dahin
                        wo das Loch klafft: mittenmang
                        Ein Boss läßt sich nicht zweimal bitten
                         
                        Achtzehn Minuten sind gespielt
                        Zwei Tore Ungarn, zwei für Deutschland
                        doch mit Vorteil für die Deutschen
                        Sie haben einen fetten Rückstand
                        in zehn Minuten wettgemacht
                        Die Stimmung in der Halbzeitpause
                        entsprechend gut in der Kabine
                         
                        Sie wittern: Heute ist was drin
                        Das Bällchen läuft, der glatte Rasen
                        kommt ihrem Sturmspiel stark entgegen
                        Und die Ungarn? Sind zu packen!
                        „Karl, wenn Sie den Kocsis halten
                        und der uns heut kein Tor verpaßt
                        dann haben Sie Ihr Spiel gemacht!“
                        Der „Chef“ hat Karl Mai aufgestachelt
                        von der Spielvereinigung Fürth
                        Und der Charly hält brav Wort
                        Er steht dem Kocsis auf den Füßen
                        wohin der immer sich bewegt
                        gibt keinen Millimeter preis
                        Außer diesem Lattenkracher
                        geht der Mann leer aus in Bern
                         
                        Die deutsche Hintermannschaft steht
                        von Spiel zu Spiel stabil geworden
                        Sie brennen alle, selbst im Regen
                        und so erlebt das Wankdorf-Stadion
                        ein ausgeglichenes Fußball-Endspiel
                        Keiner hat damit gerechnet
                        der von Fußball Ahnung hat
                        Von einem Strafraum hin zum anderen
                        wird Ball um Ball nach vorn getrieben
                        abgewehrt, zum Gegenangriff
                        Minute für Minute weicht
                        Jeder von den Zweiundzwanzig
                        weiß: Das nächste Tor entscheidet
                        Wem wird zuletzt die Sonne scheinen
                        im fadendichten Dauerregen
                        am vierten Juli Vierundfünfzig?
                        Vielleicht gibt’s auch Verlängerung
                        Wer hätte dann den längeren Atem?
                         
                        Bis heute spüre ich den Kitzel
                        wenn der Moment des Berner Wunders
                        die vierundachtzigste Minute
                        geschieht: beim Tor der Seligkeit
                        das Geschichte machen sollte
                        Laßt uns alle noch mal schnaufen
                        daß das süße Glück von damals
                        ganz in unsere Adern träufle
                        wie ein gelungener Koitus
                        Niemals – niemals soll sie enden
                        die vierundachtzigste Minute
                        im Wankdorf-Stadion zu Bern
                        bis an den Rand des kühlen Grabes