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3 : 2 für die Ewigkeit
Ein Heldenepos in elf Gesängen
Von Michael Zeller
Die Wahrheit is auf’n Platz
und der Mythos sitzt im Kopf
Adi Preißler/M.Z.
Erster Gesang
Das erste Spiel der deutschen Mannschaft
um beste in der Welt zu werden:
siebzehnter Juni Vierundfünfzig
Auf geht’s gegen die Türkei!
Lässt sich ermessen was das heißt
neun Jahre nach dem Krieg gerad mal
der Deutschlands Kreuz gebrochen hatte?
Offen lagen noch die Wunden
in jeder Stadt, vom Krieg geschlagen
Bombentrichter Hausruinen
und diese Grenze quer durchs Land
Ob einem von den deutschen Spielern
mit dem Adler auf der Brust
als sie auf den Rasen laufen
des Wankdorf-Stadions zu Bern
um beste in der Welt zu werden
diesmal nur im Fußballsport –
wem werden da die Ohren klingeln:
Siebzehnter Juni, dreiundfünfzig?
Vor einem Jahr, in Ost-Berlin
als Arbeiter der DDR
(wenn man nicht lieber „Zone“ sagte)
ihr Werkzeug aus den Händen warfen
höhere Löhne zu erzwingen
bis die Russen Panzer schickten
und den Streik in Blut erstickten
Karl Marx-Allee? Schon dieser Name
schmeckte bitter auf der Zunge
wenn man hüben war, nicht drüben
Man ist sich fern in diesen Jahren
die Deutschen-West, die Deutschen-Ost
getrennt durch mehr als Stacheldraht
Aus Hamburg stammen unsere Spieler
aus Köln und Essen, Nürnberg, Fürth
die meisten kommen aus der Pfalz
wie Bundestrainer Herberger
Ihr Deutschland ist der Teil im Westen
für den sie stolz den Adler tragen
bei ihrem ersten Spiel in Bern
Vorn Fritz Walter, mit dem Wimpel
Schwarze Hose, schwarze Stutzen
weißes Hemd mit kurzem Arm
Hinter ihm, gewellten Haars
aus Düsseldorf der Toni Turek
der das Tor zu hüten hat
gegen türkische Attacken
Eckel, Posipal und Mai
Ernst in ihr Gesicht geschrieben
denn leicht ist diese Arbeit nicht
die Elf vom Bosporus zu schlagen
Dreißigtausend sind gekommen
gut die Hälfte davon Deutsche
einen großen Traum im Herzen
den sie kaum zu nennen wagen
So war die Lage vor dem Match:
Die Türken als der erste Gegner
sind „Gesetzte“ in der Gruppe
Deutschland dagegen „ungesetzt“
nach der Meinung der Experten
Schlagen sie die Türken nicht
war der Anfang schon das Ende
und sie können Urlaub machen
Den anderen langt Unentschieden
„Sie werden aus der Deckung spielen
und vorne lauern sie auf Konter“
steckt Herberger den Rahmen ab
„Am besten, klar: ein frühes Tor
daß sie die Defensive lockern“
Den Wunsch des Trainers noch im Ohr
schleicht sich halbrechts der Stürmer Suat
durch die deutsche Hintermannschaft
Er zieht ab, ins lange Eck
und Turek ist zu spät am Boden
Durch die Arme rutscht die Kugel
erst im Netz kommt sie zur Ruh
Zwei Minuten sind gespielt
und die Türken liegen vorn
Als schnellstes Tor in dem Turnier
wird es in die Chronik eingehen
Null zu Eins. Ja, kalt erwischt
Gerade das war zu vermeiden
Unsere hintere Reihe wackelt
Eckel hängt sich rein für zwei
fängt den Ball ab, auf Fritz Walter
Bevor der Ball den Schuh berührt
weiß der schon wohin damit
Steil legt er für Morlock vor
der sich freigelaufen hat
und auf Linksaußen Schäfer sieht
Der ahnt den Paß und startet durch
zur Mitte hin, hat schon den Ball
nimmt ihn mit auf seinem Lauf
zwischen zwei Verteidigern
Nur einer steht ihm noch im Weg
Der Torhüter aus Istanbul
Turgay wirft sich ihm entgegen
Zu spät. Mit links hat abgezogen
Schäfer, und der Ball: Er sitzt
Eins zu Eins. Minute dreizehn
Diesmal hat sie Glück gebracht
Die Nervosität des ersten Spiels
scheint durch das Tor jetzt abgegolten
und sie müssen weiter stürmen
anders als das Türken-Team
Ihnen reicht das Eins zu Eins
Und so bleibt es bis zur Pause
In der Kabine erst mal Ruhe
Jeder nur mit sich beschäftigt
läßt sich den Oberschenkel klopfen
vom Masseur, die Brust, den Rücken
Den Mund gespült, Schluck Tee getrunken
Zitronenscheibchen ausgekaut
Trinken ist beim „Chef“ verpönt
Dann ergreift er erst das Wort
„Männer!“ fordert er sie auf
„drückt die Türken hinten rein
sie müssen endlich Fehler machen“
Diesmal geht die Rechnung auf
Ottmar Walter, von der Mitte
bedient den Schalker Klodt auf rechts
Der rast seine Linie runter
kurvt nach innen, läßt es krachen
Da hat Turgay keine Chance
Zwei zu Eins. Die Deutschen führen
nach der Halbzeitpause gleich
Damit ist der Bann gebrochen
die deutsche Mannschaft spielt sich frei
Fritz Walter steht allein vorm Tor
vergibt: Er will den Ball nur schieben
der Haudrauf ist nicht seine Sache
Doch dann zirkelt er den Ball
über vierzig weite Meter
punktgenau auf Bruder Ottmar
Diese Pässe schlägt nur einer
in der Mannschaft und auch sonst
gibt es wenig auf der Welt
mit links wie rechts. Sein Ballgefühl
die Musik in seinen Knöcheln
wenn er sich leicht nach hinten biegt
und mit Effet die Flanken zieht
dorthin wo er sie haben will
Jetzt also Ottmar. Vierzig Meter!
Pass auf Morlock, innen frei
Turgay zögert, Morlock handelt
und als der Türke sich entschieden
klatscht der Ball schon an den Pfosten
und von dort ins leere Tor
Vier zu Eins. Der Sack ist zu
und der erste Sieg verbucht
Zuschauer strömen auf den Rasen
wollen ihre Helden feiern
Doch wichtiger als dieser Trubel
ist die Miene, die der „Chef“
drinnen dann zur Sache macht.
Ein Händedruck. Ein stilles Lachen
sein berühmtes Knitterschmunzeln
Mehr als Worte sind gesagt
Ab zur Dusche, heiß und kalt
Müdigkeit aus den Muskeln treiben
„Nach dem Spiel ist vor dem Spiel“
ist eine von Herbergers Formeln
sind zu Klassikern geworden
Kein Trainer auf dem Erdenrund
kann bis heut darauf verzichten
und wird noch eine Weile halten
Herbergers Fußball - ABC
Im Bus zurück zum Thuner See
heute fällt das Singen leicht
Vorm Abendbrot im Mannschaftssaal
steht Herberger noch einmal auf
dankt allen, auch den Reservisten
„Das erste Spiel habt ihr gewonnen
auch wenn’s noch ein paar Fehler gab
Darüber laßt uns morgen reden“
Zur Feier des gelungenen Tags
wird jedem Mann ein Bier gegönnt
damit das Essen besser rutscht
Ein Glas Bier! Und keiner murrt
Er wäre auch nicht gut beraten
denn der „Chef“ hat scharfe Ohren
und die Augen überall
Dann ab zum Schlafen. Doppelzimmer
Nur einer geht noch nicht zu Bett
Fritz Walter nicht, der Älteste
mit seinen vierunddreißig Jahren
Nach jedem Spiel, wie spät auch immer
lässt er sich Vollmassage geben
Zerrungen und Blutergüsse
werden ihm da ausgetrieben
Muskeln vom kleinsten Krampf erlöst
Fritz Walter kennt sein Alter gut
und auch die Presse in der Heimat
Als „ausgebrannter alter Mann“
wurde er apostrophiert
sobald die Mannschaft mal versagte
Wollte schon oft die Waffen strecken
dieser fein gewirkte Mann
Doch einer läßt sich nicht beirren
Sepp Herberger, der alte Fuchs
„Sie sind mein Mann und bleiben es
egal was Journalisten schreiben“
Als Mannschaftslenker braucht er ihn
bei dem Schweizer Welt-Turnier
wo Deutschlands Fußball Flagge zeigt
erstmals wieder nach vier Jahren
internationalen Spielverbots
der Ächtung durch den schlimmen Krieg
Viele Spieler waren gefallen
hatten Arm wie Bein verloren
waren zerbrochen innerlich
Fritz Walter: Er war durchgekommen
durch Krieg und Kriegsgefangenschaft
Und jetzt, in seinen reifen Jahren
soll er die jungen Männer führen
Er ist die Seele dieser Mannschaft
vierundfünfzig in der Schweiz
auf dem Spielfeld wie danach
der lange Arm vom „Chef“ im Team
Respekt vor ihm, ein bißchen Frotzeln
wenn sie den „Großen Fritz“ ihn nennen
Auf Messers Schneide spielt Fritz Walter
mal grottenschlecht, mal außerirdisch
wie seine Sterne gerade stehen
oder wohin die Wolken schieben
Ja, der hochsensible Mann
hat sogar sein eignes Wetter
Manche wissen es bis heute
was ein „Fritz Walter-Wetter“ ist
zünftiger: „dem Fritz sei Wedder“
Er ist ein Künstler seines Fachs
wie er nur selten auf uns kommt
in deutschen Landen allzumal
Ein Glück, wenn jemand ihn erkennt
bevor die Meuchel-Masse aufwacht
und blind ihr „Hosiannah!“ heult
© Michael Zeller
(Erstveröffentlichung in den Musenblättern)
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