Wie Ukrainer und Russen den Krieg erleben?

Nora Krug – „Im Krieg“

von Johannes Vesper

Wie Ukrainer und Russen den Krieg erleben?
 
Zwei illustrierte Tagebücher - Aus Kiew und St Petersburg
 
Wie eine ukrainische Journalistin (K aus Kiew) und ein russischer Künstler (D aus St. Petersburg) mit der Alltäglichkeit des Krieges nach dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24.2. 2024 umgehen, was sie bewegt, wie sie ihre Erlebnisse verarbeiten, will die Autorin und Buchillustratorin Nora Krug in diesem schmalen Band darstellen. Sie hat beide zufällig online kennengelernt und via Kurznachrichten interviewt. Sie erhoffte sich eine emotionale Spiegelung der Kriegsrealität und eine „Schärfung des öffentlichen Bewußtseins“ für den Krieg. Der Verkaufserlös wird in die Ukraine gespendet. 
 
Die Kurznachrichten der Kriegsberichterstatterin aus der Ukraine finden sich in gerahmten blaßgrünen Blöcken auf rosa Papier, die des Künstlers aus St. Petersburg auf dunkelrosa Papier. Vor den Kapiteln (Frühling, Sommer, Herbst, Winter) sind historische Fotos aus der Ukraine bzw. eines von Jalta zu sehen und zwei bis vier ebenfalls gerahmte mehrfarbige Bilder der Illustratorin Nora Krug erläutern die Texte auf jeder Seite. 
Während ihre Kinder mit nach Litauen geflohenen Freunden über „Minecraft“ telefonierten, freute sich K., daß es inzwischen kugelsichere Westen für Journalistinnen gab, ertappte sich D in St Petersburg dabei, Putins Tod zu wünschen und verglich das gegenwärtige Russland mit Nazi- Deutschland. Er vermutet, daß 30% der Russen für den Krieg, 30% dagegen und 40% gleichgültig sind, weil es ihnen wirtschaftlich einigermaßen gut geht. Während K. aus der Ukraine von Leichen russischer Soldaten in Kühltransportern berichtet, die nicht nach Russland zurückgebracht werden, kann D. nicht frei atmen, lebt in ständiger Angst, abgeholt und wegen seiner politischen Meinung denunziert zu werden. Er fürchtet das Putinsche „Z“ auf den Plakaten in der U-Bahn und denkt über Auswanderung nach.
 
Erstaunlich erscheint, wie frei beide zwischen Kopenhagen und Cherson, zwischen Paris und Riga hin und her reisen. Die Interview-Fragen sind nicht abgedruckt. Wurden die Texte von K. Und D. aus dem Russischen übersetzt? Haben die beiden auf Englisch geschrieben? Das würde vielleicht die einfache Sprache der Texte erklären. Jedenfalls schreibt die Autorin, daß sie „die Perspektiven ihrer beiden Protagonisten akkurat und einfühlsam dokumentiert“ habe. Einfache Sprache, die Illustration und aufwendige Ausstattung des schönen Bändchens (126 Seiten) erinnern an ein Kinderbuch. Bemerkenswert, daß Auszüge aus diesem Buch in der Los Angeles Times, in der Süddeutschen Zeitung, in El Pais (Spanien) und in de Volkskrant (Niederlande) schon im Februar 2022 veröffentlicht wurden und das Buch - ein Beispiel für visuellen Journalismus - ausgezeichnet wurde mit dem Overseas Press Club Award 2023. Die L.A.-Times-Serie war sogar für den Pulitzer Preis nominiert.
 
Authentischer erscheinen Texte, die am 26.02.2024 in der Süddeutschen Zeitung publiziert wurden. Sie waren am Jahrestag des Angriffs vom russischen Sender TV Rain in Auswahl gesendet worden. Aus diesen Texten wird deutlich, daß es in Russland eine Zivilbevölkerung gibt, die ihren Diktator verabscheut, für die der 16. (Tod Nawalnys) und der 24. Februar (Kriegsbeginn 2022) in Russland Gedenktage des Schreckens sind. Der Sender hatte gesammelt und dokumentiert, was Putins Gegner in Russland wirklich über den Krieg denken. Der Exilsender (in Russland ist er verboten) hatte seine Hörer gebeten, Briefe an Verwandte oder Freunde in der Ukraine zu schreiben. 
 
Nora Krug – „Im Krieg“
Originaltitel: Diaries of War - übersetzt von Alexander Weber und Nora Krug
© 2024 Penguin Random House Verlagsgruppe, 128 Seiten, gebunden, 19 x 26 cm durchgehend vierfarbig illustriert - ISBN: 978-3-328-60325-2
28,- €
 
Weitere Informationen: www.penguin.de/