Überwältigend!

"Requiem für einen jungen Dichter" - Bernd Alois Zimmermanns Jahrhundertwerk auf SACD

von Peter Bilsing
Live wie im Konzertsaal - endlich im 360 Grad Surround-Sound
 
Bernd Alois Zimmermanns Jahrhundertwerk auf SACD
 
Lange vor „Dolby Digital“ oder „DTS“, nämlich vor einem halben Jahrhundert, gab es den Ton aus der Konserve bereits im 360 Grad Sound. So kamen Ende der 50er Jahre viele große Kinofilme im 6-Kanal-Magnetton in unsere Kinos. Aufwendige Technik, die erst das superbreite 70-mm-Format möglich machte. Bands wie Pink Floyd zelebrierten diese Technik in den Sechzigern beeindruckend, jetzt mit über 20 Kanälen in ihren Konzerten, in die sie nicht unbedingt ihren Sound, sondern eher eindrucksvolle Effekte, wie das „Starten von Flugzeugen“ oder „verfolgende Schritte“ einbrachten. Später gab es Vinylscheiben mit SQ-Quadrophonie unterschiedlicher Systeme. Hier wurden aus zwei Kanälen durch Trägerung vier gemacht – mit mäßigem Ergebnis und mangelhafter Kanaltrennung. Erst die Einführung digitalen 5.1-Filmtons auf DVD bzw. parallel auf SACD überzeugte nachhaltig. Mehr als 120 Dezibel Dynamik und 192 kHz Abtastrate lassen Dächer wegfliegen. Natürlich läßt sich jede dieser CDs auch auf normalen Stereo-Playern abspielen, da sie doppelt codiert sind. Aber der wahre Sound kommt nur auf SACD-kompatiblen Wiedergabegeräten (heute schon ab 100 Euro) zum Tragen – ob man das braucht? Bei Bernd Alois Zimmermanns (1918-1970)  „Requiem“ unbedingt!
 
Das wird verständlich, wenn man das Originalkonzept dieses Werkes betrachtet, dessen technischer Aufwand gigantisch ist. Nicht weniger als drei (große!) Chöre sind ebenso im Raum zu verteilen, wie mehrere Sprecher, unzählige Studiolautsprecher, die Jazzcombo - und vorne sitzt ein Höllenorchester mit sagenhaften 5 Hörnern, 4 Trompeten, 5 Posaunen und Tuba, Flöten, Klarinetten und Saxophonen in Mehrfachbesetzung neben 2 Klavieren, Harfe und fast einem eigenen Schlagwerkorchester, einer großen Orgel, 10 Violoncelli und 8 Kontrabässen. Damit toppen wir Mahler und Schönberg um Längen. Die Größe der Partitur liegt bei ca. einem Quadratmeter. Der begleitende Mann am Mischpult begibt sich normalerweise schon bei der Generalprobe in den Risikobereich eines Herzinfarkts. Wer das Stück je live, oder hier durchaus nachvollziehbar auf SACD je gehört hat, wird es (ähnlich wie Zimmermanns Soldaten-Oper) nie mehr vergessen. Was für ein schönes Weihnachtsgeschenk für Klassikfreunde mit Verstand, Neugier und offenem Herzen. Eine Rarität ohnegleichen.
 
Es ist wahrlich ein „Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts“, eine Art Weltfriedensrequiem oder Weltenoratorium und sicherlich Ultima Ratio des musikalisch Machbaren, welches versucht, der „Kugelgestalt der Zeit“ (so der Komponist) in laufenden Parallelmontagen unterschiedlicher Art gerecht zu werden. Ein Stück permanenter bis dato ungehörter Grenzüberschreitungen. Schlicht überwältigend.
 
Ein Gesamtkunstwerk, wie dieses, welches Zimmermann selbst eine „pluralistische Klangkomposition“ nannte, ist schwer zu beschreiben. Was hören wir? Die „geistige Synopse eines Zeitalters“, angesiedelt zwischen den Zwanziger und Siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts - in Form von ausgesuchtem sprachlichen Dokumenten und komponierten Toncollagen. Neben einer ungeheuren Sprachenvielfalt Zitate von Aischylos, Majakowski, Joyce, Pound, Camus, Schwitters und Bayer, kolportierte Reden von Politikern, Doku-Material aus Demonstrationen, Papstworte, Popsongs, Naturgeräusche, Waffenlärm; wir hören Hitler, Chamberlain, Dubcek, Papandreou – manchmal klingt es wie ein Mantra, vieles bedrohlich (z.B. Stalin, Mao, Goebbels oder Freisler) oder skurril, wie die musikalische Beatles-Anleihe von „Hey Jude“. Am Ende die demütigende Bitte „Donna nobis pacem!“, wo in einem großen Ausbruch der riesenhaften Chorblöcke ein zweifelhafter Appell im Raume verhallend stehen bleibt. Der musikalische Kontext aber deutet schon an, daß dies ein Wunschtraum bleiben wird. Unerhörte Musik und Zeitdokument zugleich! Ein halbes Jahrhundert Zeitgeschichte zieht in 63 Minuten an uns vorüber.
 
Die vorliegende Aufnahme ist ein Konzertmitschnitt vom 23.Juni 2005 aus dem Concertgebouw Haarlem unter Verwendung der restaurierten original 4-Kanal-Bänder. Damit liegt die erste Surround-Aufnahme des Werkes überhaupt vor. Allein das liebevoll dokumentarisch und hochinformativ gestaltetet 71-seitige Booklet ist sein Geld wert.
Beispielbild

Bernd Alois Zimmermann
Requiem für einen jungen Dichter (1967/69)

Lingual für Sprecher, Sopran- und Baß-Solo, drei Chöre,

Orchester, Jazz-Combo, Orgel und elektronische Klänge,
nach Texten verschiedener Dichter, Berichte und Reportagen

© 2008 Cybele Records

1: Prolog / Requiem I [39:37]
2: Rappresentazione [5:09]
3: Elegia [1:44]
4: Tratto [1:09]
5: Lamento [6:48] --> Audiobeispiel
6: Dona nobis pacem [8:35]

Interpreten:
Claudia Barainsky (Sopran)
David Pittman-Jennings (Bariton)
Michael Rotschopf (Sprecher I)
Lutz Lansemann (Sprecher II)
Tschechischer Philharmonischer Chor Brno (Chor I)
Slowakischer Philharmonischer Chor (Chor II)
EuropaChorAkademie (Chor III)
Eric Vloeimans Quintet (Jazz-Quintett)
Jan Hage (Orgel)
Holland Symfonia (Orchester)
João Rafael (Klangregie)
Bernhard Kontarsky (Musikalische Leitung)

CYBELE SACD 860.501 (Hybrid SACD: Stereo und 5.0-kanaliger Surround Sound)
Gesamtspielzeit: 63:10
Begleitheft-Sprachen: Deutsch und Englisch (76 Seiten Umfang mit Digipak)
Eine Ko-Produktion mit der Internationalen Koorbiennale Haarlem und KRO Radio 4
Gefördert von der Kunststiftung NRW

Weitere Informationen unter:
www.cybele.de