Mädchenfreundschaft während der Shoa

Hannah Pick-Goslar und Dina Kraft – „Meine Freundin Anne Frank“

von Johannes Vesper

Mädchenfreundschaft während der Shoa
 
Die Freundin von Anne Frank 
erzählt als eine der letzten Zeitzeuginnen
 
Sie war 1932 vier Jahre alt, als die Familie Berlin verließ. Hitler, der wohl „verbrecherischste und bösartigste Antisemit der Menschheitsgeschichte“ (Daniel Goldhagen), war gewählt und Vater Goslar, ein hoher Regierungsbeamter, Teilnehmer des 1. Weltkriegs, orthodoxer Jude und Zionist fürchtete das Schlimmste. In London blieben die Goslars nur wenige Monate, weil dort der Arbeitgeber die Sabbatruhe nicht respektierte und dem Vater gekündigt hatte. Die Familie zog nach Amsterdam. Im Vergleich zu der großbürgerlichen Wohnung in Charlottenburg, wo Mutter Goslar zwei Flügel für Ihr Klavierspiel zur Verfügung standen, waren die Wohnverhältnisse dort einfacher, aber die Familie richtete sich ein. Der Vater betrieb mit einem Freund eine Beratungsstelle für vor allem jüdische Flüchtlinge. Hanna besuchte eine Montessori-Schule, fand bald neue Freundinnen und Freunde in der jüdischen Flüchtlingsgemeinde. darunter Anne, die Tochter einer Familie aus der Nachbarschaft. In der Merwedeplein verlebten die beiden „besten“ Freundinnen eine glückliche Kindheit, obwohl die Bedrohung zunahm und mit dem Pogrom vom 11. November 1938 dann massiv den Alltag bestimmte. Die Niederlande litten unter der großen Flüchtlingszahl. Fremdenfeindlichkeit machte sich breit. Als dann deutsche Bomber in Richtung England dröhnten, Rotterdam zerbombt wurde und in den Straßen deutsches Militär auftauchte, bemühte sich die Familie zu fliehen, nach Argentinien, in die USA, nach England oder Palästina, bloß weg. Aber die Bereitschaft, jüdische Flüchtlinge aufzunehmen, war nicht groß in der Welt. Die amerikanischen Konsulate haben 1933-45 hunderttausende jüdische Asylanträge abgelehnt, entweder aus eigenem Antisemitismus oder aus Angst vor Spionen und Überfremdung. Die bürokratischen Hürden wurden höher und höher getürmt und der „Tod durch Bürokratie“ einfach in Kauf genommen.
 
In Amsterdam durften Juden inzwischen kein Radio mehr besitzen, nicht-jüdische Freunde nicht mehr besuchen, mußten ihre Fahrräder abgeben. Jüdische Flüchtlinge wurden von der Weerbaarheidsafdeling der niederländischen Nazi-Partei auf der Straße verprügelt. Das Tragen des gelben Judensterns wurde Pflicht. Im Anhang des Buches wird das Schicksal der Freunde und Freundinnen von Anne Frank, die sie zum Geburtstag am 14.06.1942 eingeladen hatte, geschildert (Elegie für Mitschülerinnen und Mitschüler). Über die Hälfte der Kinder sind von den Nationalsozialisten ermordet worden. Wenige Tage später waren Anne und ihre Familie weg, untergetaucht. Es hieß, sie seien in die Schweiz geflohen. Und nun begann die Massendeportation der Juden in die Konzentrationslager. Eindrucksvoll und authentisch werden die grauenvollen Umstände des Menschentransports in Viehwagen, des sich anschließenden Lebens im Durchgangslager Westerbork geschildert und die ständige Angst vor dem Abtransport in den Osten, aus dem gerüchteweise bekannt worden ist, daß dort Juden massenhaft umgebracht wurden. Von Westerbork aus wurde sie in das als Musterlager angekündigte KZ Bergen-Belsen verbracht, wo aber unter Hunger, Kälte, Dreck, Läusen, Übergriffen des KZ-Personals noch weit mehr gelitten wurde. Aber zur freudigen Überraschung traf sie dort ihre Freundin Anne Frank, konnte mit ihr aber nur durch den Stacheldraht Kontakt aufnehmen, erfuhr ihre Geschichte und hörte auch von dem Tagebuch. Wenig später wurde Anne abtransportiert und der Kontakt brach ab. 1945 zum Ende des Krieges hin wurde das KZ verlassen. Hannah geriet in einen Zug in Richtung Osten, der östlich von Leipzig von der Roten Armee gestoppt wurde. 
 
Die befreiten Insassen liefen zu Dörfern daselbst, wo sie von der Bevölkerung mit dem Nötigsten versorgt wurden und erstmals wieder in einem weichen Bett schlafen konnten. Die 17jährige Autorin verbrachte ihre erst Nacht in Freiheit in einem Zimmer, dessen Wände mit einer unscheinbaren Hakenkreuztapete bemustert waren. In den letzten Kapiteln wird die Rückkehr nach Holland und der Start im „Gelobten Land (Palästina) mit Nakba und erstem Krieg zwischen Arabern und Israelis beschrieben. Die Autorin arbeitete als Kinderkrankenschwester, gründete ihre Familie und erzählte lebenslang ihre Geschichte, in den USA, in Yad Vashem, in Südafrika, Japan und auch in Deutschland. Und sie wurde gehört, weil sie so eng war mit dem wahrscheinlich bekanntesten Shoa-Opfer Anne Frank. 
 
Das Buch ist kein Buch über Anne Frank, sondern eine Autobiographie ihrer Freundin aus Kindheitstagen. Es ist eigentlich auch kein Buch der Autorin Hannah Pick-Goslar, die im Oktober 2022 verstarb, sondern ein Buch, welches die als Koautorin bezeichnete Dina Kraft, Journalistin aus Tel Aviv nach vielen und langen Gesprächen mit ihr (seit 2022) und Benutzung weiterer Quellen verfaßt hat. Im Buch wird jüdisches Leben geschildert, werden jüdische Feste beschrieben. Trotz der bedrückenden Atmosphäre bietet das Buch nahezu spannende, jedenfalls anrührende und bewegende Lektüre, die dringend empfohlen wird. Sehr vereinzelte Ungereimtheiten stören nicht weiter. 
Und nach der Lektüre bleibt es unbegreiflich, daß eine Demokratie in Deutschland solch katastrophale, unmenschliche, grauenhafte Entwicklungen nicht verhindern konnte. Hitler wurde gewählt von seiner antisemitischen Bevölkerung, von allzu „willigen Vollstreckern“ der Shoa, die selbst im Schlafzimmer mit Hakenkreuztapete an der Wand politisch blieben. Daß Deutschland danach doch wieder in die Gesellschaft der anständigen Nationen aufgenommen worden ist, war alles andere als selbstverständlich.
Im Nachwort erläutert Dina Kraft die Entstehung des Buches und gibt eine Auswahlbibliographie benutzter Bücher und Quellen an. In kurzen Lebensläufen werden die Autorinnen vorgestellt. 
 
Hannah Pick-Goslar und Dina Kraft – „Meine Freundin Anne Frank“
Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust.
Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke
© 2023 Hannah Pick-Goslar und Penguin Verlag (deutschsprachig), 1. Auflage, Gebunden, 383 Seiten, Schutzumschlag - ISBN 978-3-328-60300-9
24,- €
 
Weitere Informationen: https://www.penguin.de