Verstörende Fotos bröckelnder Alpen

Michael Goldgruber – „Bruchzonen“

von Johannes Vesper

Verstörende Fotos bröckelnder Alpen –
Bruchzonen „schrecklicher Schönheit“
 
Von Johannes Vesper
 
„Wenn jemand an einer Sache in der Natur zerrt, wird er feststellen,
daß diese mit dem Rest der Welt verbunden ist.“ (John Muir 1911)
 
Erdbeben in Japan verursachen aktuell katastrophalen Zerstörungen, auf Island tat sich jüngst ein Riß in der Erdoberfläche von 4 km Länge auf. Riesige Lavaströme traten aus, feurige Magmafontänen schossen tagelang in die Höhe: Droht unsere Erde auseinanderzubrechen? Um solch gewaltige Bruchzonen geht es im besprochenen Band nicht. Zusätzlich zu vulkanischer Erdtätigkeit verändern vor allem auch wir Menschen die Natur, auf Dauer noch globaler und stärker. Der österreichische Fotograf Michael Goldgruber richtete seine Kamera auf Bruchzonen bröckelnder, berstender Alpen und schmelzende Gletscher. Wenn Lisa Ortner-Kreil in ihrem Essay „Schreckliche Schönheit“ schreibt, daß „das Bewußtsein für den Klimawandel sich schleppend, aber dennoch mehr und mehr durchsetzt“ dann stimmt das hoffentlich, und jedes Landschaftsfoto kann von vielen als „Sinnbild“ verstanden und politisch gedeutet werden, jedenfalls möchte der ausgebildete Fotograf, 1965 geboren, daß seine Bilder so gesehen werden. Er studierte später Kunstgeschichte und Philosophie, erhielt dann Stipendien (Cité des Art Paris 2012, Gastkünstler im Centre d`Art contemporain pur le Photographie á Bruxelles, österreichisches Staatsstipendium für Bildende Kunst, 2015 Preis für künstlerische Photographie in Paris). Seine Fotos wurden in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt (u.a. in Wien, Berlin, Stuttgart, Zürich, Paris, Mexiko-Stadt, Havanna, Moskau, Shanghai, Athen, Bologna).
 

Michael Goldgruber Restmodul, 2019 © Michael Goldgruber und VG Bild-Kunst, Bonn

Michael Goldgruber stammt aus der Steiermark und beobachtet seit Jahren in den Alpen, wie sich ehemals romantische, anscheinend noch intakte Landschaften weiter verwandeln und verändern. Seine Landschaftsphotographien sind aber keine Dokumentationen bestimmter Orte und ihrer Veränderungen über die Zeit. Die Aufnahmen zeigen einsame Felsstrukturen, Gletscherbilder, geriffelte, gespaltene Felsoberflächen meist ohne Horizonte, wenige Farben und Menschen. Mit blühenden Almwiesen ohne Sünd, blauem Himmel und glücklichen Kühen, oder mit präparierten Pisten vor schneebedecktem Panorama unter blauem Himmel, also mit dem Marketing der gewinnmaximierenden Tourismusindustrie bzw. der Ski-Mafia haben diese Fotos nichts gemein. In ihrem Essay „Schreckliche Schönheit“ schreibt Lisa Ortner-Keil, daß Goldgrubers Landschaften im heutigen Anthropozän „eine Natur zeigt, die auf der Kippe steht“. Das stimmt, wenn auf den Bildern Bauwerke unbestimmten Sinns oder Reste von ihnen zu sehen sind oder Mikroplastik den Fels überzieht. Zerstörte Textilplanen, mit denen schmutzige Gletscherinseln geschützt werden sollen, lassen an zerrissene Leichentücher denken. Da wird der die Natur zerstörende menschliche Einfluß augenfällig. Absurd präsentieren sich eine schwere Kettenraupe hinter einer kleinen, aufgestellten Spielwand für Kinder, oder rostige Überbleibsel von kaputten Liften im Geröllfeld. Mit seinen Bildern absackendender Restgletscher weist der Fotograf auf die steigende Erderwärmung als Folge des Klimawandels hin. Im zitierten Essay wird explizit die Diskrepanz zwischen der Erhabenheit einsamer Berggipfel und der um Gleichgewicht kämpfenden Ökologie, wie sie die Bilder zeigen, diskutiert.
 

Michael Goldgruber Eisbruch, 2021 © Michael Goldgruber und VG Bild-Kunst, Bonn

In die Fotos eingebettet ist ein Zitat des Naturphilosophen John Muir (1838-1914), der schon 1911 auf die Komplexität der Natur hingewiesen hat und die größte Naturschutzorganisation der Welt gegründet hat (Sierra Club 1892). Textfragmente (Seiten 65 und 81) aus dem Epos „Erste Erde“ von Raoul Schrott ( geb 1964 in Landeck) zeigen, daß Bruchzonen und Salbänder in der Natur auch poetisch-dichterisch zum Thema geworden sind. Astrid Kury weist auf den Begriff des „gestörten Geländes“ hin, der von Esther Kinsky literarisch verwendet wurde, um den zerstörerischen menschlichen Einfluß auf Landschaft und Natur deutlich zu machen. Beim Blick vom Skilift auf die bröckelnden Alpen sind prinzipiell diese Bilder für jeden Skifahrer sichtbar. Wie hilfreich ist die ästhetisierende Darstellung? Schafft es die Kunst, menschliches Verhalten zu ändern? Hoffentlich! Silvesterfeuerwerk und der Weltklimagipfel in Dubai Ende 2023 stimmen da eher fatalistisch. Für den Entschädigungsfond zur Entlastung armer und ärmster Länder bei der Bewältigung der Folgen des Klimawandels stellte Deutschland 100 Millionen € zur Verfügung. In der Silvesternacht wurden dagegen in Deutschland unbegreiflichererweise 180 Millionen € verballert. 
 Auch der Versuch, den Klimawandel durch Umbau der Wirtschaft (Transformation, Batterieproduktion)zu bekämpfen führt zu neuen Problemen. Der Band „Bruchzonen“ mit den eindrucksvollen, vorzüglich gedruckten Fotos stimmt nachdenklich. Ihm ist weite Verbreitung zu wünschen. 
 
Michael Goldgruber – „Bruchzonen“ 
© 2023 Kehrer Verlag Heidelberg / Michael Goldgruber / VG Bild-Kunst Bonn, 128 Seiten,  24 x 27 cm, Festeinband, 81 Farb-Abbildungen. (Digitale Mittelformatfotografien und analoge Großformatfotografien). Essays von Sophie Haslinger, Astrid Kury, Lisa Ortner-Kreil und Biographien in Deutsch und Englisch, ISBN 978-3-96900-146-2
45,-€