„Bitte nach Ihnen“ nicht so banal, wie es scheint.

Emmanuel Levinas – „Ethik als Erste Philosophie“

von Johannes Vesper

„Bitte nach Ihnen“ 
nicht so banal, wie es scheint
 
Emmanuel Levinas oder der Blick ins Antlitz des Gegenübers.
Ethik als Erste Philosophie
 
Von Johannes Vesper
 
Der kurze, dichte Text, 1982 als Vortrag in Löwen konzipiert, ist nicht leicht zu lesen. Die 39 Seiten haben es in sich und man glaubt zu verstehen, daß das Verständnis, das Erkennen des Seins seit Aristoteles die eigentliche, wichtigste, erste Aufgabe und Chance des nachdenkenden Menschen, des Philosophen ist („1. Philosophie“). Auch wenn die Schoah nicht explizit erwähnt wird, Bachnut, der 11. September, der 7.Oktober oder Gaza bei der Abfassung des Textes noch gar nicht geschehen sind, mahnen diese Katastrophen, daß wir umdenken müssen. Emmanuel Levinas (1906-1995) ersetzt in seinem Schlüsselwerk zum Denken Erkenntnistheorie und Metaphysik durch die Ethik als 1. Philosophie. Unser sittliches Verhalten muß vor allem anderen bedacht werden. Emmanuel Levinas wurde in Kaunas/Litauen geboren. Seine Brüder und Eltern sind von Nazideutschen ermordet worden. Er selbst studierte in Straßburg, in Freiburg bei Edmund Husserl und wurde schließlich Professor für Philosophie in Paris.
 
Die Frage nach dem Sinn des Lebens hat Philosophen von jeher umgetrieben. Paul Fleming hat in den Zeiten des 30jährigen Krieges empfohlen „vergnüge dich an dir und acht es für kein Leid, hat sich gleich wider dich Glück, Ort und Zeit verschworen“. Einige Jahre vorher hatte Rene Descartes, am Kaminofen bei Ulm sitzend, die Frage nach dem Sinn unseres Seins beantwortet: Cogito ergo sum. Heinrich Heine hat angesichts Krankheit und Tod am Ende vielleicht gedacht: „Ich küsse, also bin ich, noch“. Das war für ihn aber keine philosophische Frage. Albert Einstein dachte nach über die Relativität nicht unserer Existenz, sondern über die Probleme der gekrümmten Raumzeit, ein sehr wichtiger Beitrag zur Philosophie.
 
Levinas denkt anders, ganz anders. Cogito ist eben nicht ergo sum. Er schreibt, daß die größte Weisheit zu finden ist, wenn wir unserem Gegenüber in die Augen schauen. Schon in anderen Essays hat Emmanuel Levinas geschrieben, daß „im Gesicht des anderen Menschen der ursprüngliche Ort alles Sinnhaften“ gesehen werden muß. Die Frage geht weit über Axel Hackes Frage nach dem „Anstand in schwierigen Zeiten und … wie wir miteinander umgehen“ hinaus. Da wird das Thema eher journalistisch als philosophisch abgehandelt. Levinas denkt philosophisch existentiell: Was macht den Menschen aus? Nicht die Life-Work-Balance, nicht das Vergnügen an sich selbst und. Konsum schon gar nicht. Im Antlitz des Anderen, in seiner Alterität manifestiere sich Ausgesetztheit, Wehrlosigkeit, Verletzlichkeit, letzten Endes seine und die eigene Sterblichkeit, schreibt er und weist auf die Verantwortung für das Leben des anderen hin. Menschliche Würde besteht in der Verantwortung für den anderen. Sehr verdichtet bedenkt er verschiedene Aspekte europäischer Philosophiegeschichte bis hin zu seinem Doktorvater Edmund Husserl und dessen Phänomenologie des Geistes (die er in Frankreich publik gemacht hat) und sieht anschließend in der Ethik die bedeutendste, die erste Philosophie, das eigentlich Wichtige der menschlichen Existenz und des menschlichen Denkens (Das Noema Husserls). Immer und vor allem sollten wir bei unserem Tun und Handel Gut und Böse bedenken und zwar nicht nur theoretisch, sondern im unmittelbaren Hinblick auf unser Gegenüber. Schon nach dem kategorischen Imperativ Immanuel Kants kann der Mensch jedenfalls nicht nach Lust und Laune verfahren, sondern nach der „Maxime, von der du wollen kannst, daß sie das allgemeine Gesetz vernunftbegabter Wesen“ werde. Das reicht aber. Die Wirkung des Tuns und Handelns auf unser Gegenüber ist nicht Kants vordringliches moralphilosophisches Thema. Es ist sicher kein Zufall, daß heute Ethikkommissionen aus dem Boden sprießen. Sie können jedem Einzelnen das selbständige Nachdenken über die Grundlagen menschlichen Handelns aber nicht abnehmen und sind vielleicht Ausdruck eines schlechten Gewissens.
Levinas sorgt sich um das Gegenüber, guckt die Alterität an und beginnt zu denken. Die höfliche Floskel „Bitte nach Ihnen“ bekommt unter diesen Aspekten tiefe philosophische Bedeutung. Solche empathische Philosophie steht in völligem Gegensatz zur heute angestrebten, sinnlos-egoistischen Selbstverwirklichung. Dem Philosophen geht es um „das Menschliche hinter einem selbstbezogenen Leben“. Solche Philosophie hat natürlich religiösen Hintergrund, stammt hier aber nicht aus dem Christentum, obwohl auch im Weihnachtsoratorium „Tod, Teufel, Sünd und Hölle“ am Ende ganz und gar immerhin geschwächt, aber leider doch nicht ganz verschwunden sind. Levinas Überlegungen stammen aus jüdischem Leben und jüdischer Weisheit, wie er sie von seiner Herkunft her kennt. Die Frage seiner Philosophie ist nicht, „warum gibt es das Sein … sondern „Wie rechtfertigt sich das Sein?“ Damit endet sein Text und der Versuch einer kurzen Erläuterung desselben, der bedauerlicherweise als Lektüre weder in der Ukraine, noch in Gaza, an amerikanischen Universitäten, oder auf den Straßen Neuköllns Wirkung entfalten wird.
 
In dem langen und informativen Nachwort erläutert Gerhard Weinberger die Gedanken des Philosophen. Das angefügte Glossar erklärt philosophische Begriffe.
 
Emmanuel Levinas – „Ethik als Erste Philosophie“
übersetzt aus dem Französischen und mit Glossar, einem Nachwort und einer Handbibliothek versehen von Gerhard Weinberger
© 2022 Sonderzahl Verlagsgesellschaft m.b.H. Wien, 95 Seiten Taschenbuch - ISBN 978-3-854496007
16,- €

Bei weitergehendem Interesse:
Christoph von Wolzogen: Emmanuel Levinas – Denken bis zum Äußersten
Verlag Karl Alber: Freiburg 2005, 231 Seiten,  22,- €