Drogensucht eine Erfindung?

Helena Barop - „Der Große Rausch - Warum Drogen kriminalisiert werden“

von Johannes Vesper

Drogensucht eine Erfindung?
 
Der große Rausch
 
Alkohol- und Drogenmißbrauch war schon in der Antike weit verbreitet. Die Orakelpriesterin von Delphi konnte die Zukunft nur deuten, indem sie, Gas aus einer Erdspalte schnüffelnd, sich in Trance versetzt. Aber darum geht es in dem Buch von Helena Barop nicht.
Sie hält das Drogenproblem für eine Erfindung. Bei ihr geht es um die Geschichte der Drogengesetze. Thomas De Quincey hatte 1804 seine Zahnschmerzen mit Laudanum (Opiumtinktur) behandelt und wurde abhängig, fixierte seine Opiumabhängigkeit literarisch („Bekenntnisse eines englischen Opiumessers“) und glaubte, Glückseligkeit in kleinen Fläschchen kaufen zu können. Mit diesem Interesse blieb er nicht alleine in der Literaturgeschichte, wobei der Zusammenhang zwischen Drogenkonsum und Literatur ein eigenes Buch wert wäre.
Nahezu gleichzeitig isolierte der 21jährign Apothekergehilfe Friedrich Wilhelm Sertürner in Paderborn aus dem Saft der Schlafmohnkapsel Morphium (1805), welches nach der Entwicklung von Injektionsnadel und Spritze in der Mitte des 19. Jahrhunderts im verlustreichen Amerikanischen Sezessionskrieg (1861-65) großzügig eingesetzt wurde und zu einem ersten Schub von Drogenabhängigkeit bei Veteranen und breiteren Bevölkerungskreisen führte.
Parallel zum Morphium verbreitete sich das von Albert Niemann, 24 Jahre alt, 1860 in Göttingen isolierte aktive Alkaloid der Kokapflanze. Das psychoaktive Koka wurde als Lokalanästhetikum eingesetzt und auch von Sigmund Freud zur Steigerung der Leistungsfähigkeit empfohlen. In den 1880ern mischte John Stith Pemberton Wein, Kokain und Kolanuß zu Pemberton`s French Wine Coca und zusammen und starb, selbst Morphinist, wenig später an Magenkrebs. Nach Streichung von Alkohol und Koka aus der Rezeptur trug Coca Cola nach 1903 nicht länger zur Ausbreitung des Koka-Rausches bei.
 
1895 synthetisierte der 25jährige Felix Hoffmann bei Bayer in Elberfeld Diacetylmorphin (Heroin), welches zunächst als Schmerzmittel und Hustensaft gut verkauft wurde, dann in der Drogenszene bis heute eine wichtige Rolle spielt (Heroinsubstitution!).
In Kalifornien war Opium schon 1875 verboten worden. Chinesische Migranten hatten das Opium aus China mit in die USA gebracht. Die Autorin hält die Opiumgesetzgebung in Kalifornien im Wesentlichen für eine Folge des verbreiteten antichinesischen Rassismus. Zusätzlich spielten christlich-moralische Gesichtspunkte eine Rolle.
Auf Drängen von Charles Brent, Bischof auf den Philippinen (seit 1898 US-Kolonie) trafen sich 1909 in Shanghai Delegierte aus 13 Staaten, auch aus Deutschland. Die Konferenz verurteilte den Mißbrauch von Opium, welches in den USA daraufhin auch verboten wurde, nachdem 1906 zur Reglementierung schon die Food und Drug Administration gegründet worden war. Und mit der Harrison Narcotics Tax Act von 1914 wurden erstmalig Drogen per Gesetz verboten.
 
Die Geschichte von Drogenkonsum und Drogenverboten geht weiter bis in die deutsche Gegenwart, liest sich locker, informativ und unterhaltsam. Personen-, Substanzregister und Anmerkungen erleichtern die Orientierung. Das umfangreiche Literaturverzeichnis bietet Hilfe bei weitergehendem Interesse. Die freie Autorin (seit 2021) stellt dar, daß die Angst vor Drogen von der Politik schon immer geschürt und oft mit Rassismus in Verbindung gebracht worden ist. Zusammenfassend stellt sie am Schluß fest, daß Drogen Heilmittel sein können, daß Rausch nicht „böse“ ist, daß Drogenprohibition nicht weiterhilft, tatsächlich auch, daß Drogenkonsum gefährlich sein kann und suggeriert, daß Drogenkranke eigentlich nur infolge der Prohibition leiden. Daß stoffgebundene Sucht eine Krankheit ist (Bundessozialgericht 18.Juni 1968), Suchstoffe im Stoffwechsel auf neuronaler Ebene Hirnreaktionen verändern und Suchtverhalten bedingen wird nicht diskutiert. Auch die Problematik der Suchtbehandlung nicht, was von einer Historikerin und Philosophin, die für ihre Dissertation über die internationale Drogenpolitik der USA 1950-1970 dreimal Preise erhielt, vielleicht auch nicht erwartet werden wird.
 
Zum Schluß bedauert sie. daß Cannabis jetzt nicht vollständig liberalisiert wird, begrüßt und begründet aber den politischen Schritt in die richtige Richtung, damit „der große Rausch… in Zukunft weniger Schaden anrichtet und mehr Freude macht“.
 
Helena Barop - „Der große Rausch - Warum Drogen kriminalisiert werden“
Eine globale Geschichte vom 19. Jahrhundert bis heute
© 2023 Siedler Verlag München, 1. Auflage, 304 Seiten, gebunden – ISBN: 978-3-8275-0172-1
26,- €
 
Weitere Informationen: https://www.penguin.de/