Gegen den Strom

Chaïm Soutine bis 14.01.2024 in Düsseldorf K20

von Johannes Vesper

Chaïm Soutine, Der kleine Konditor  (1923)
Gegen den Strom
 
Chaïm Soutine bis 14.01.2024 in Düsseldorf K20
 
Von Johannes Vesper
 
In Deutschland wurde Chaïm Soutine (1893-1943) seit Jahrzehnten nicht ausgestellt (zuletzt in Münster 1981). Seine Bilder sind im Gegensatz zu den USA, zu Frankreich und der Schweiz in deutschen Musen auch nur selten vertreten. Als 14jähriger hat er, der in der Nähe von Minsk geboren wurde, gegen den Willen seiner Eltern begonnen zu malen und wurde als Jugendlicher von orthodoxen Juden seines „Shtetls“ verprügelt, weil er das Porträt eines Gemeindemitglieds ohne dessen Zustimmung angefertigt hatte. Seit den polnischen Teilungen und den Eroberungen Rußlands unter Katharina der Großen waren die Juden gezwungen, in dem Gebiet zwischen Lettland und dem Schwarzen Meer zu siedeln. Wegen Pogromen, Unterdrückung bezüglich beruflicher Ausbildung und Studiums emigrierten zwischen 1881 und 1914 ca. 2 Millionen Juden aus Rußland. Auch Chaïm Soutine ging nach dem Studium in Minsk und später in Vilnius 1913 nach Paris, wo er sich, ein „schüchterne Einzelgänger“, mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser hielt und im Louvre die alten Meister (El Greco, Diego Velazquez , Chardin u.a..) studierte. „Stilleben mit Heringen “ (1916) läßt die einfachen, ärmlichen Lebensumstände des Mittellosen erahnen. Da liegen die drei toten Heringe auf einer Schale zwischen zwei Gabeln, starren mit offenen Augen ins Jenseits und die dunkle Tischplatte wird belebt durch einen hellen Becher. Eine triste Mahlzeit. Sein Durchbruch in der Kunstszene erfolgte, als 1922 der große Sammler Albert C. Barnes 52 Gemälde auf einen Schlag kaufte (15-30 Dollar pro Blatt!), darunter ca. 30 Porträts von Personen der Unterschicht, zu denen sich der Maler hingezogen fühlte. Wie und wo er Beziehungen zu Chorknaben und Messdienern aufgenommen hatte, ist nicht klar.
 
Soutines Schlüsselwerk „Le Patissier“ (der Konditor), hatte Barnes in einer Galerie entdeckt und war fasziniert vom Weiß des Gesamteindrucks, von der zerknitterten Berufskleidung und von dem riesigen, rechten roten Ohr. Der hier abgebildete „Petit Patissier“ unterscheidet sich davon mit linkem deformiertem Ohre, schiefer Nase und verzogenem Mund. Nachdem sein Fahrer den heruntergekommenen Soutine ausfindig gemacht hatte, bot Barnes ihm ein Bad, neue Kleidung und mietete ihm ein Atelier. Kunst und Geld paaren sich gerne. Albert C. Barnes hatte als Arzt in Berlin an der Charité gearbeitet und in Heidelberg promoviert. Mit einem von ihm erfundenen Desinfektionsmitte (Argyrol) hatte er sodann sehr viel Geld verdient, blieb aber immer sozial engagiert und konfrontierte die Arbeiter in seinen Fabriken mit Kunst aus seiner später riesigen Kunstsammlung in Philadelphia. Eine öffentliche Ausstellung 1923 mit seinen Künstlern, darunter u.a. Picasso und Matisse, wurde von der Kunstkritik verrissen, woraufhin er Kunstkritikern und Museumsmanagern den Zutritt zu seiner dann erbauten Gemäldegalerie (Barnes Foundation) verweigerte.
 

Chaïm Soutine, Stilleben mit Heringen (1915/16)

Die Porträts mit ihren verschobenen, deformierten entstellten (?) Gesichtern werden nicht dem Aussehen der Modelle entsprochen haben, wie es im Foto wiedergegeben würde. Das ist merkwürdig, war doch Soutine beim Malen auf Modelle, auf etwas, was er vor sich sehen konnte, angewiesen. Ohne Vorbild hat er nie gemalt, aber die Vorbilder doch erheblich expressiv modifiziert. Über seine Ideen und Gedanken zur Kunst ist wenig bekannt. Soutine hat kaum Schriftliches hinterlassen Es gibt keine Tagebücher, keine umfangreichen Briefwechsel. Allenfalls einige Postkarten.
Soutine malte 1919-22 in Céret, 1923-25 in Cagnes-sur Mer Landschaften, Plätze, Straßen. Häuser mit einem malerischen Duktus, der mit stürzenden Linien die Perspektive zusammenbrechen ließ. Die Bilder blieben dabei immer gegenständlich und zeigten keinen Hang zur Abstraktion, aber eine solche Fülle von verrückt miteinander verwobenen, umeinander taumelnden Einzelheiten, die nicht immer einfach identifiziert werden können und die Orientierung im Bild erschwert (siehe Abb. 3). Künstlerisch hat er viel gemein mit dem Expressionismus. Seine unruhigen Linien lassen den Betrachter an van Gogh denken.
Nach Paris waren zu seiner Zeit zahlreiche, jüdische Künstler aus Osteuropa gekommen (darunter Marc Chagall 1911), die mehr oder wenig erfolgreich „als im Ausland geborene Künstler die Bezeichnung Kunst aus Frankreich an sich reißen, darunter Slawen wie Monsieur Soutine…“ schrieben die Pariser Kunstkritiker in feindseligem Antisemitismus. So wurde ab 1925 für die ausländischen Künstler in Paris der Begriff „Ecole de Paris“ eingeführt, um so die ausländischen Künstler von den autochthonen französischen Malern („Ecole Française“) abzugrenzen. Antisemitismus war auch 25 Jahre nach der Affäre Dreyfus im künstlerischen Paris der 20er Jahre noch außerordentlich lebendig. Dabei sind im Werk Soutines jüdische Motive, Hinweise auf jüdische Wurzeln nicht zu erkennen.
 

Chaïm Soutine, Stillleben mit Fasan (1919)

Für die Ausstrahlung des Malers in die Kunst der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts war die große Ausstellung des Museum of Modern Art in New York 1950 von großer Bedeutung. Kunstkritiker sahen in ihm und seiner Malweise des freien, gestischen Auftrags von Farbe auf die Leinwand, im „Zorn seines Pinselstrichs“ den Vorläufer eines abstrakten Expressionismus (z.B. de Kooning, Pollock). Auch Francis Bacon war von Soutine in besonderer Weise beeinflußt. Für ihn waren diese Bilder „eng mit allem verbunden, was die Kreuzigung ist. Seine roten Bilder von geschlachteten Ochsen (mit aufgehängtem Schafskopf) oder weniger seine Stilleben (Rochen, Fasan), Abb. 5, Abb 4.) finden in den ausgeweideten Kadavern Anish Kapoors noch Jahrzehnte später ihre Entsprechung.
Die „Lesende Frau von 1940 ist eines seiner letzten Werke. Die dramatischen Lebensumstände nach der Besetzung von Paris durch die Nazi-Wehrmacht, die Flucht aufs Land, sein Leben unter falschem Namen, das alles spiegelt sich in der Intimität dieses Bildes nicht. Wegen eines Magendurchbruchs brachte man ihn unter abenteuerlichen Umständen zur Operation nach Paris, wo er aber nicht mehr gerettet werden konnte. Zu seiner Beerdigung auf dem Friedhof Montparnasse kamen neben anderen Pablo Picasso und Jean Cocteau.
Rund 60 Bilder sind in Düsseldorf K20 noch bis zum 14.01.2023 ausgestellt. In sieben Essays werden im Katalog Leben und Werk des Künstlers vorgestellt und diskutiert. Eine Werkliste und Kurzporträts der Autorinnen finden sich im Anhang.
 

Chaïm Soutine, Landschaft in Cagnes (Levillage 1923)

Der Katalog Chaim Soutine: Gegen den Strom, herausgegeben von Susanne Gaensheimer und Susanne Meyer-Büser, erscheint anläßlich der gleichnamigen Ausstellung (K20 Kunstsammlung Nordrhein Westfallen 09.02.2023-14.01.2024. Lousiana Museum of Modern Art , Humlebaek, 09.02.2024-14. Juli 2024. Kunstmuseum Bern 16. August -01. Dezember 2013). Essays von Susanne Gaensheimer, Susanne Meyer-Büser, Pascale Samuel, Sophie Krebs, Claire Bernardi, Marta Dziewańska, Catherine Frèrejean
© 2023 Hatje-Cantz Verlag, 176 Seiten, Gebundene Ausgabe, 75 Werke des Künstlers in farbigen Abbildungen, einige Fotografien - ISBN 978-3-7757-5540-6 (Deutsch) ISBN 978-3-37757-5541-2 (Englisch)
40,00 €
 
Bilder aus dem Pressematerial der Ausstellung:
Abb. 1 Stilleben mit Heringen (1915/16)
Abb. 2 Der kleine Konditor (1923)
Abb 3 Landschaft in Cagnes 1923)
Abb 4 Stillleben mit Fasan 1919
Abb, 5 Rochen 1922