Kommissarin Lund - "Das Verbrechen"

Gesehen von

von Jürgen Kasten

© edel / ZDF

Kommissarin Lund
Das Verbrechen


Die gute Nachricht zuerst: 60% der Zuschauer zwischen 14 und 29 Jahren lehnen skandinavische TV-Krimis ab. Laut einer TV-Zeitung hat das eine repräsentative Umfrage ergeben. Wie schön, wir können uns also auf niveauvolle Filme freuen.
 

Der Plot: Eine lebenslustige, energische und erfolgreiche Frau
aus Kopenhagen, mit aufgewecktem 13-jährigen Sohn, hat endlich einen neuen Partner gefunden und will zu ihm nach Schweden in ein schönes Häuschen nahe Stockholm ziehen. Dafür gibt sie ihren Job als Chefermittlerin der Mordkommission auf, packt ihren Bürokram in einen Karton, ärgert sich kaum über ihren polternden, rauchenden Nachfolger, mit dem sie nur noch einmal ganz kurz zu einer Fundstelle mit blutigen Frauenkleidern rausfährt - und hat ab da das Grauen im Nacken. Wir werden den deprimierenden Verfall ihres Privatlebens und eine nervenzehrende Suche nach einem brutalen Mörder erleben. Eine 19-jährige Gymnasiastin wurde auf grausamste Art und Weise gequält und umgebracht.
„Nichts ist mehr, wie es vorher war…“  - so beginnt jede Folge der auf 10 Filme angelegten Serie. Sie haben richtig gelesen. Wir sprechen hier nicht von 10 abgeschlossenen Serienepisoden, sondern von einem einzigen Film, über tausend  Minuten lang.
„Das tue ich mir nicht an“, sagte ich und so saß meine liebe Frau jeden Sonntagabend ab 22.00 Uhr alleine vor der Glotze und war nicht mehr ansprechbar. Dann kam die DVD-Box der Firma „edel motion“ mit den ersten 5 Folgen hier an und wollte besprochen werden. „Na ja, schau ich mal rein“, war meine laue Reaktion – und schon war ich gefangen.

Perfekt

Ich möchte unseren Lesern eine sehr persönliche Ansprache mitgeben: Ich bin seit vielen Jahren ein Fan guter Krimis, egal ob geschrieben oder gefilmt. Für mich ist ein Kriminalfilm gut, wenn er eine Geschichte erzählt, die raffiniert und facettenreich aufgebaut ist, ohne sich in Nebenerzählsträngen zu verlieren; der spannend ist durch unvorhersehbare Wendungen; der Tiefe hat und gesamtgesellschaftliche Probleme beleuchtet, ohne belehrend zu sein; der übertriebene Action und Hektik durch Schnitt, Musik, richtiger Location und echter Ausstattung überflüssig machen.
Kommen nun noch Schauspieler hinzu, die mit geringen Mitteln ganze Gefühlswelten auszudrücken vermögen und dafür auf „coole Sprüche“ verzichten können, dann ist der Film perfekt – dann ist es „Kommissarin Lund“.
 
Spuren

Die Geschichte beginnt gemächlich: Die Ermittler werden vorgestellt, weitere Personen von
Bedeutung, das Umfeld der Gymnasiastin, die vermißt gemeldet wurde - schließlich der Zufallsfund blutiger Frauenkleidung. Daraufhin wird in einem morastigen Waldgebiet intensiv gesucht und dabei ein versenkter PKW mit der Leiche des Mädchens gefunden. Es wird klar, daß sie bestialisch mißhandelt, gefesselt und lebend in den Kofferraum des Wagens eingeschlossen wurde wo sie im Wasser elendig starb.
Bis dahin sind bereits 50 Minuten vergangen, in denen wir Kommissarin Lund kennenlernen. Sie ist ja auf dem „Sprung“ nach Schweden und will ihr bisheriges Leben hinter sich lassen. Ihr 13-jähriger Sohn wird zwischen seiner Oma, seinem Vater und dem neuen Freund der Sarah Lund hin und her geschoben. Mutter und Sohn finden keine gemeinsame Sprache. „Du interessierst Dich nur für Leute, wenn sie tot sind“, wirft Mark seiner Mutter vor.
Sie hat keine Zeit, sich auf Diskussionen einzulassen. Ihr sich merkwürdig konspirativ verhaltener Chef bittet Lund, ihre Auswanderung zu verschieben, denn ihr designierter Nachfolger Jan Meyer sei noch nicht soweit, diesen komplizierten Fall zu leiten. Und der ist wahrlich kompliziert. Erste konkrete Spuren führen ins Rathaus. Dort herrscht der autoritäre Bürgermeister Bremer über Kopenhagen. Zwischen ihm und dem Oppositionspolitiker Troels Hartmann tobt ein erbitterter Kommunalwahlkampf. Beide scheinen irgendwie in den Mord verwickelt zu sein. Man glaubt sich der Aufklärung ganz nah, die Spannung steigt – doch dann ist nach 100 Minuten die erste Folge beendet und der Zuschauer wird ratlos zurück gelassen.

Atemlos

Jan Meyer, dreifacher Vater, glücklich verheiratet und Kettenraucher, dem das Rauchen im Büro und das Anschnauzen von Zeugen verboten wird, muß sich der introvertierten Chefin unterordnen. „Gibt es auch eine Kleiderordnung für meine Unterwäsche?“, fragt er ironisch. Weder davon, noch von irgendwelchen Vorgaben ihrer Vorgesetzten, läßt sich Sarah Lund aus der Ruhe bringen. „Sauber wäre nicht schlecht“, antwortet sie ihrem Assistenten knapp.
Lund steigert sich in den Fall hinein. Er geht an ihre physischen und psychischen Grenzen. Meyer folgt ihr, widerstrebend zunächst, später bewundernd und aufopferungsvoll. 20 Tage und Nächte dauert die Jagd, zusammengefasst in 16 Filmstunden. Dabei geht es nicht nur um den Mord, um „Das Verbrechen“, sondern auch um Lügen, Betrug, Verrat, Korruption, Intrigen, Rache, Machtmißbrauch, Boulevardpresse, falsche Freunde, Parteipolitik, eben alle Facetten menschlicher Abgründe und weitere Verbrechen.
In keiner Minute kommt Langeweile auf. Mit der spröden und wortkargen Sarah Lund hetzen wir rastlos jeder neuen Spur hinterher. Schlaflose Nächte, Nahrungsaufnahme nebenher, nervende Vorgesetzte, aufdringliche Presse, Politik, die sich einmischt und ständige Fehlschläge stehen den Darstellern ins Gesicht geschrieben, als wären sie tatsächlich echte Ermittler, die einem Phantom hinterher jagen, das sie jeden Augenblick fassen können. Dann erfolgt eine Wendung, eine Spur zweigt ab, verläuft im Nichts, führt zu neuen Ungeheuerlichkeiten und die Suche geht weiter.
Damit man zwischendurch nicht das Atmen vergißt, werden ganz kleine Schmunzelszenen eingesetzt. So etwa, wenn Sarah Lund während einer nächtlichen Durchsuchung in einer düsteren, verwüsteten Wohnung aus Versehen auf eine Waage tritt, die sie übersehen hat: „Sie wiegen 52,2 Kilogramm“ sagt eine fröhliche Stimme und läßt Sarah erschreckt herumwirbeln. „Kommissarin Lund“ ist Spannung pur, die sich auf den Zuschauer überträgt und bis zum unglaublichen Finale anhält. Die Machart ist ganz große Krimikunst, die Darstellung einmalig. Glauben sie niemanden, der anderes schreibt, der gar etwas von „logischen Brüchen“ oder Unplausibilität grummelt.  Ja doch, sie kommen hin und wieder vor; aber sie tun diesem Film keinerlei Abbruch.
Überzeugend

Zu den Darstellern: Es sind hier etliche Personen, die eine tragende Rolle spielen. Alle agieren überzeugend. Aus meiner Sicht sind fünf besonders hervorzuheben:

© edel / ZDF
Da ist zunächst Sofie Gråbøl, eine Theaterschauspielerin, die in vielen Filmen mitwirkte, u.a. in ”Nightwatch – Nachtwache”. Bereits vor dem Casting war ihr die Rolle der spröden, verbissenen und eigenwilligen Sarah Lund zugedacht, die ihr wie auf dem Leib geschrieben paßt. Wortkarg und gnadenlos dirigiert sie ihr Team, selber immer in der vordersten Reihe. Respekt zollt sie weder ihren Vorgesetzten, noch den hochgestellten Persönlichkeiten, mit denen sie zu tun hat. Sie setzt ihren Kopf durch. Man sieht förmlich, wie ihre Gedanken wirbeln - und der Erfolg gibt ihr Recht. An ihre Seite hat man nach mehreren Castings Søren Malling als den agilen, mitdenkenden Jan Meyer gestellt, vor allem deshalb, weil er die Rolle äußerst flexibel füllen kann, Improvisationstalent hat und so den vorgegebenen Drehbuchtext aufwertete. Lars Mikkelsen stammt aus einer Künstlerfamilie. In mehreren ”DOGMA-Filmen” wirkte er schon mit. Hier spielt er den Politiker Troels Hartmann. Hart und kompromißlos ist er gegenüber seinen politischen Gegnern. Zusammen mit seiner Assistentin (mit der er ein Verhältnis hat) und seinem Parteisekretär spinnt auch er Intrigen, spielt eine undurchsichtige Rolle, hat womöglich direkt etwas mit dem Mord zu tun, zeigt sich als Privatmensch aber sensibel und verletzlich. Mikkelsen füllt diese Rolle so glaubhaft aus, daß man ihm den künftigen Bürgermeister Kopenhagens ohne weiteres abnimmt.
Schließlich die Eltern des Opfers, dargestellt von Eleonora Jørgensen und Bjarne Henriksen. Sie sind das in Verzweiflung und Trauer getauchte Paar Pernille und Theis Birk Larsen, schwankend zwischen Selbstmitleid und –zweifel. Bombenrollen.  Eleonora Jørgensen kennen wir aus der herrlichen Komödie „Italienisch für Anfänger“ und Henriksen aus diversen Krimis. Pernille, die trauernde Mutter, verliert sich in Aktionismus, dann wieder in völliger Apathie, auf die Wut folgt; auf sich selbst, ihre Familie und auf die Polizei. Trotz allem hält sie alles zusammen, mobilisiert die Presse und verweigert schließlich jedes Gespräch mit Lund oder Meyer. Theis wiederum versinkt zunächst völlig in sich selbst, spricht kaum das nötigste. Seine ganze Pein drückt sich in seiner Mimik und seinen Augen aus. Das Filmteam hat seine im Drehbuch vorgegebenen Textbeiträge stark reduziert, weil Bjarne Henriksen alleine durch seine Präsenz überzeugt, Sprache war dabei nahezu überflüssig.
Das ist so stark gespielt, daß der Zuschauer mit ihm fühlt, ihm folgt, selbst in seiner Wut, und schließlich in seinem Sinnen auf Rache, das ihn bis zum Exzeß führt.
 
"EMMY"-nominiert - und jetzt im Handel

Hinter so einem Projekt steckt ein riesiges Team. In diesem Fall ist es das einer Dänisch-Deutschen-Koproduktion, die bereits im letzten Jahr im dänischen Fernsehen mit einer Sehbeteiligung von bis zu 80 % lief und für den „EMMY“ nominiert wurde.
Für die Regie zeichnen Birger Larsen, Kristoffer Nyholm, Henrik Ruben Genz und Hans Fabian Wullenweber verantwortlich. Das Drehbuch lag in den Händen von Søren Sveistrup und Frans Bak steuerte die Musik bei, die zu diesem ungewöhnlichem Projekt paßt. Ein enervierendes Stakkato reißt uns kompromißlos in den Sog der Handlung. Produziert wurde das ganze von Piv Bernth und dem Koproduzenten Peter Nadermann.
Ich konnte diese Rezension natürlich nicht schreiben, bevor nicht die letzte Folge und damit die Aufklärung des Verbrechens für alle Zuschauer am Bildschirm mitzuerleben war. Der gesamte Film lief fast drei Monate lang jeden Sonntagabend im ZDF, gestern Abend Folge 10 und damit das schreckliche Ende. Für die Redaktion des Mitproduzenten ZDF zeichnete Wolfgang Feindt verantwortlich. Er hatte die Fernsehfassung als Experiment angekündigt. Ich hoffe, es setzt Meilensteine für künftige Produktionen. Wer sich nun möglicherweise ärgert, weil er dieses Glanzlicht verpaßt hat, für den gibt es zum Schluß eine gute Nachricht:

Das umfangreiche Werk ist käuflich zu erwerben. Die Firma „edel motion“ hat zwei DVD-Boxen herausgegeben. Box 1 mit den Folgen 1 – 5 befindet sich bereits im Handel. Enthalten ist dort auch ein „Making Of“, Interviews und Castingszenen. Box 2 mit den Folgen 6 – 10 erscheint voraussichtlich am 28.11.2008, ebenfalls mit einem „Extra“ mit Informationen, Trailer und Fotos.
 
 
Kommissarin Lund  -  Das Verbrechen – Folgen 1-5 (5 DVD)
Laufzeit 570 min, Bildformat 16:9 PAL, Tonformat Dolby Digital 2.0 Stereo
Sprache Deutsch, FSK ab 12 Jahren
 
© Edel motion 2008
ab € 29,95
 
Kommissarin Lund  -  Das Verbrechen – Folgen 6-10 (5 DVD)
Laufzeit 530 min (etc. – wie vor)

Weitere Informationen unter:  www.edel.de