Gelungenes Debüt

Dana Vowinckel – „Gewässer im Ziplock“

von Johannes Vesper

Gewässer im Ziplock

Dana Vowinckels gelungenes Debüt
 
Dieser Sommer lief aus dem Ruder. Dabei hat die fünfzehnjährige Margarita eigentlich nur ihre Mutter in Israel für 26 Tage besucht. In den Ferien bei Ihren Großeltern in Chicago mußte sie erleben, wie die Großmutter den Aufenthalt in Jerusalem gegen ihren Willen arrangierte. Sie wollte die seit 13 Jahren auseinandergefallene Familie wieder vereinigen und glaubte außerdem, daß sich ihr Sweetheart langweilte. Ekel und Heimweh überfielen den Teenager, wenn Oma mit Lippenstift an den Zähnen beim Mittagessen über den Tisch schrie, weil Opa schwer hörte. Gazpacho aus der Flasche mit Glibbernudel versöhnten Margarita nicht. Sie dachte an Berlin, ihre Freundinnen dort, an Nico, mit dem sie schon mal Sex gehabt hatte ohne richtig verliebt gewesen zu sein, und an ihren geliebten, allein sie erziehenden Abba, der als Kantor in der jüdischen Gemeinde sein Geld verdiente und u.a. die wunderbare jüdische Kirchenmusik Louis Lewandowskis pflegte. Dabei hatte er eigentlich Pilot werden wollen. Ihre Mutter hatte sie seit 13 Jahren nicht gesehen. Die hatte Sprachen studiert, genauer Linguistik, hatte promoviert, ihr Kleinkind und Mann verlassen, Stipendien bezogen, an Universitäten in den USA gearbeitet und jetzt ein Fellowship in Jerusalem erhalten.
Margarita gehorchte aber und flog nach Israel, wo die Mutter sie am Flughafen nicht abgeholt hat, weil sie den Termin verpeilt hatte, wie sie nicht recht glaubwürdig beteuerte. Also bandelte die 15jährige trotz unerwarteter Periodenblutung mit ihrem ganz netten, nur wenig älteren Sitznachbarn im Flugzeug an. Das Abenteuer endete nicht am nächtlichen warmen Strand von Tel Aviv, sondern bei sturmfreier Bude mit aufregendem Sex in Liors Bett, der immerhin um Einvernehmen nachgesucht und ein Kondom vorgeschlagen hatte. Endlich bei der Rabenmutter in Jerusalem, plagt Rita diese mit allem, was eine Pubertierende an Nickeligkeiten so zu entwickeln imstande ist. Auf einer Reise durch das Land kommen sich beide aber gelegentlich auch näher. Erstaunlicherweise greift die junge Autorin immer wieder auf uralte jüdische Riten und Texte zurück, wie sie sich im alten Testament finden, und der Leser wird gelegentlich Psalmentexte aufschlagen oder sich über jüdische Gebete informieren müssen. Die Erzählung spielt und schwankt zwischen Jerusalem, Tel Aviv, Chicago und Berlin und lebt von den unterschiedlichen Aspekten, die Tochter und Vater einnehmen. Gleichsam nebenbei wird das jüdische Leben in Deutschland geschildert mit seinem lebhaftem Antisemitismus (ca. 2500 Straftaten 2022!) und dem Attentat in Halle. Und die Rabenmutter erzählt im Auto beim Stau auf der Autobahn in der Wüste viel über die Familie und sich selbst. Margarita und Leser erfahren manches über den geliebten Vater, was beide so nicht für möglich gehalten hätten. Die Aktualität des Romans wird deutlich, wenn Abba den Flug seiner Tochter nach Israel im Internet verfolgt, wenn Margarita mit ihrer besten Berliner Freundin per WhatsApp in einer wüst-amüsanten Jugendsprache telefoniert. Die politischen Verhältnisse in Israel, das Lavieren des Staates mit den russischen Autokraten im Ukrainekrieg, die Konflikte der Jugend dort, wenn sie gegen die eigene Regierung demonstrieren und Wehrdienst zu Verteidigung des Staates akzeptieren: vieles kommt zur Sprache, vor allem Seelenleben und Gedanken des Einzelkindes, der einsam heranwachsenden, die sich in dieser zerstörten Familie emotional kaum mehr zurecht findet. Was macht eine Mutter aus? Abbas würde sie immer lieben, auch wenn er ihre Wut ertragen muß.
Worin besteht die Autonomie des Backfischs? Wollte sie eigentlich wirklich nichts anderes, als das jemand sie schön fand? Gelegentliches Onanieren hilft nicht gegen Einsamkeit. Literarisch überraschend finden sich im überaus authentischen Sprachmix des Romans (Deutsch, Englisch, seltener Hebräisch) durchaus auch lyrische, fast romantische Schilderungen, wenn vom „beigen“ Jerusalem die Rede ist oder vom „grauen“ Berlin unter Sepiafilter bei fallenden Blättern im September. Zuletzt geht Margarita in Jerusalem mit totem Handy verloren, wird enttäuscht von ihrem Lior, bei dem sie Geborgenheit und Zuflucht vergeblich sucht, der tatsächlich „nein“ sagt. Vater Abba, in Sorge um sein Kind, fliegt sofort nach Israel und die Dramatik nimmt weiter zu; wie, wird hier nicht verraten. Dem Mädchen schwindet jeder Halt, der jüdische Vater realisiert, daß seine Tochter eine Deutsche ist und er sich mit der Mutter trotzdem um das Kind bis zuletzt streiten muß, allen jüdischen Gebeten und Riten zum Trotz. Der interessierte Leser wird zu Klärung (bei weitem nicht aller) jüdischer Begriffe das Glossar am Ende des Buches zu schätzen wissen.
Bei diesem Werk handelt es sich um das Debüt der 1993 geborenen Autorin. Die begnadete Erzählerin schlägt die Leser mit diesem Roman in den Bann. Nach dem Studium von Linguistik und Literaturwissenschaft wurde sie 2021 beim Ingeborg-Bachmann- Wettbewerb ausgezeichnet Sie dankt Katharina Hacker und Julia Franck für Unterstützung und frühes Lesen.
 
Der Suhrkamp Verlag will mit seiner „Nova“-Reihe Bücher-Überraschungen bieten jenseits von Massengeschmack und Bestsellern, was bei 60-70.000 Neuerscheinungen pro Jahr auf dem deutschen Markt nicht einfach, hier aber gelungen ist. Seltsam ist der Titel des Buches.
 
Dana Vowinckel – „Gewässer im Ziplock“
© 2023 Suhrkamp Verlag, 1.Auflage, 363 Seiten, Fester Einband, Glossar - ISBN 978-3-518-47360-3
23,- €
(eBook 19.99 €)
 
Weitere Informationen: www.suhrkamp.de