„Ausgerechnet Bananen“

Tobias Bleek – „Im Taumel der Zwanziger. 1923 Musik in einem Jahr der Extreme.“

von Johannes Vesper

„Ausgerechnet Bananen“
 
Im Taumel der Zwanziger – Musik 1923
 
Schlaglichtartig beleuchtet der Musikwissenschaftler Thomas Bleek wenige Aspekte der Musikgeschichte am Anfang der „goldenen“ zwanziger Jahre und nimmt in acht Kapiteln das Jahr 1923 aufs Korn. Da begann in Deutschland das Rundfunkzeitalter und zwar am 29. Oktober. Fritz Kreislers „Andantino im Stil von Padre Martini“ für Cello und Klavier war das erste Musikstück, welches über Radiowellen in das Ohr der Musikliebhaber fand, leibhaftig gespielt vom Cellisten Otto Urack. Da gab es noch kaum Radios in Berlin. „Schleichhörer“ mit selbstgebauten Empfängern empfingen zunächst das neue Medium. Darüber liest man aber erst im letzten Kapitel.
 
1923 litt und ächzte man in Deutschland unter einer bedrohlichen Hyperinflation. Damals war Berlin das, was es heute erst werden muß, eine Stadt der Fahrräder, da sich keiner mehr einen Fahrschein für die Straßenbahn leisten konnte. Ein Konzertticket kostet bis zu 1 Milliarde Mark. Da leisteten sich nur Inflationsgewinnler in Abendgarderobe einen Konzertabend, während sich für deutsche Künstler sich ein Auftritt kaum mehr lohnte und ein gewisses Konzertleben nur durch „Ausländerei“ aufrechterhalten wurde. Deutsche Musiker suchten dagegen im Ausland Auftrittsmöglichkeiten, um sich finanziell über Wasser halten zu können und nahmen so dortigen Künstlern das Brot. Bis in die USA floh man „vor dem Schrecken der Valuta“. Fremdenfeindlichkeit und fehlende Solidarität unter Musikern wurden beklagt, obwohl gerade durch die Musik „die zerrissenen Fäden zwischen den Völkern Europas“ hätten geknüpft werden können. Und wer sich Konzerte nicht leisten konnte, vergnügte sich beim Tanz: „Millionen von unterernährten, korrumpierten, verzweifelt geilen, wütend vergnügungssüchtigen Männern und Frauen torkeln und taumeln dahin“ schrieb Klaus Mann. Alle versoffen „ihrer Oma ihr klein Häuschen“, und „Ausgerechnet Bananen“ (Fritz Löhner-Beda)entwickelt sich zur neuen Nationalhymne.
Auch die Laienmusik litt. Musikunterricht für den Nachwuchs wurde unbezahlbar. Der monatliche Mitgliedsbeitrag für die Chöre des Deutschen Arbeiter-Sängerbunds (gegründet 1908) stiegt von 30,- Mark im Juni 1923 auf 250.000 Mark im November des Jahres. Trotzdem sangen 1923 rund 250.000 Sänger, darunter 60.000 Frauen in 743 gemischten und 691 reinen Frauenchören. Dirigenten wurden mit Butter und Eiern bezahlt und die Musikbegeisterten in Schnelten /Niedersachsen bezahlten ihre in Oldenburg georderten Musikinstrumente mit einem geschlachteten Schwein. Donnerwetter. Welche Chancen musikalischer Bildung könnten sich aus der heutigen Massentierhaltung ergeben!
 
Und die Wandervögel sangen und pflegten das Volkslied. Walther Hensel und Fritz Jöde (Hamburger Volksschullehrer) Begründer einer deutsche Jugendmusikkultur, veranstalteten im Böhmerwald die Finkensteiner Singwoche, wo Ordnung, harte Betten, ernsthafte Chorarbeit, Stimmbildung, Harmonielehre, dazu Kunstlieder und Kammermusik angesagt waren. Diese Singbewegung erfüllte eine in der Zeit vorhandene „Sehnsucht nach Weltanschauungen“ (Hermann Hesse), nach Sinn und „Gemeinschaft“. Dieser Begriff entfaltete große Ausstrahlung, veranlaßte Karl Vötterle nach seiner Teilnahme in Finkenstein Singblätter zu produzieren und so die Sing-Gemeinschaft zu unterstützen. Wie er mit Tatkraft, Mut, Ideenreichtum in „wirtschaftlich schlimmster Zeit“ seinen Bärenreiter Musikverlag aufgebaut hat, wird ausführlich beschrieben. Von der Kenntnis dieser Gründung können heutige Start-Ups profitieren. Mit dem Namen Bärenreiter bezeichnete er, Wandervogelsymbolik aufgreifend, den Stern Alkor im Großen Bären.
Die Nähe der Wandervogelbewegung zur politisch rechten Szene sah Thomas Mann und warnte davor, daß die Jugend auf der Suche nach Sinn „politischem Obskurantismus und der Reaktion in die Arme getrieben werden“ könnte, während sein Sohn gleichzeitig vom Gemeinschaftsgefühl der Odenwaldschule schwärmte, „von nächtlichen Reigen um romantische Feuer“. Das alles liest sich außerordentlich interessant und bietet detailreiche Aspekte weit über die Musik hinaus.

Das Jahr 1923 war aber musikgeschichtlich vor allem auch bedeutsam durch die Uraufführung des bis dahin größten Werk Igor Strawinskys „Les Noces“ und seines Oktetts („Octuor“). Damit löst er sich vom „theatralischen Mystizismus des Sacre“ und von der Gefühlsmusik Wagners, begründet einen Neoklassizismus objektiver Musik, die wie bei J.S, Bach „kein anderes Ziel hat, als sich selbst zu genügen“. Wie er sich damit zwischen Paris und Biarritz von einem national-russischen Komponisten zu einem kosmopolitischen Star entwickelte, wird kenntnisreich und unterhaltsam dargestellt, ebenso wie die Entwicklung Bela Bartoks. Dessen Tanzsuite wurde zusammen mit einer Festouvertüre von Ernst von Dohnanyi und dem Psalmus Ungaricus von Zoltan Kodaly beim Festkonzert zum 50jährigen Jubiläum der Stadt Budapest 1923 uraufgeführt wurde. Bartok wollte die Kunstmusik durch die Volksmusik der Region beleben, sich von der Vorherrschaft deutscher Kultur emanzipieren und glaubte an die Auferstehung Ungarns. In Kenntnis des „riesigen Reichtums an Melodien“ infolge des kulturellen Austausches zwischen den Völkern, stellte er fest, „rassische Unreinheit ist (für die musikalische Vielfalt) entschieden zuträglich“.
 
Dem politischen Musik- ge- und -mißbrauch währende der Ruhrbesetzung wird ein eigenes Kapitel gewidmet. Die Geschichte des Deutschlandliedes, vaterländische Gesänge, das gespannte Verhältnis zwischen Besatzern und Zivilbevölkerung (Schlageter!) und eine erste kulturelle Selbstfindung des Ruhrgebiets durch Musik im Konzertsaal sind hier die Themen (Eine zweite folgte Jahrzehnte später mit der Gründung des Klavierfestivals Ruhr!). Inmitten der Ruhrkrise fuhren mehr als 100 Musiker aus drei Orchestern (Bochum, Dortmund und Essen) gemeinsam nach Berlin, um am 4. Oktober „Zeugnis abzulegen für die Gemeinschaft und

Thomas Bleek - Foto © Johannes Vesper
unzerstörbare Einheit allen deutschen Schaffens“. Neben Brahms Bruckner und Beethoven war auch die Musik für Orchester des hochbegabten jung im 1. Weltkrieg gefallen Rudi Stephan zu hören. Am Ende des Konzerts wurden die deutschen Tonheroen mit „Deutschland über alles!“ begeistert gefeiert.
 
In dem Essay über Arnold Schönberg geht es um den Streit, wer die Zwölftonmusik erfunden hat, um seine Freund- und Feindschaft mit Kandinsky, seinen Wandel von einem deutschen zu einem österreichisch-jüdischen Musiker infolge eines erschreckenden Antisemitismus. Im Salzburgischen wollte man 1921 seinen Gästen eine „judenfreie Sommerfrische“ bieten und Arnold Schönberg nicht ins Dorf lassen. 1924 wurde sein bedeutendes Bläserquintett, seine erstes großes Zwölftonwerk uraufgeführt und er 1925 an die Preußische Akademie der Wissenschaften berufen. Nach der Wahl 1933 emigriert er erst nach Paris dann in die USA.
Und natürlich „matters Black Musik“ 1923. Über Bessie Smith sowie über Lous Armstrong und Lillian Hardin gibt es je eigene Kapitel.
Das anregende, elegant geschriebene Buch legt die erhebliche Wechselwirkung zwischen Musik, Gesellschaft und Politik dar. Diese Fundgrube für musik- wie historisch Interessierte mit Literaturverzeichnis, zahlreichen Anmerkung und einem Register wird dringend empfohlen.
 
Tobias Bleek – „Im Taumel der Zwanziger. 1923 Musik in einem Jahr der Extreme.“
© Bärenreiter-Verlag (Gemeinschaftsausgabe der Verlage Bärenreiter und J.B. Metzler, 315 Seiten, gebunden, zahlreiche Abbildungen (sw), ISBN 978-3-7618-7245-1
29,99€ (auch eBook erhältlich)