Der kleine Junge und der Blinde

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Der kleine Junge und der Blinde
 
Es war ein schöner Tag. Der kleine Junge stieg den Weg hinauf zum Wald. Am Waldrand saß auf einer Bank der Blinde mit seiner schwarzen Brille. Neben sich hatte er den langen Taststock, mit dem er gefährliche Stellen aufspürte.
Der kleine Junge setzte sich neben ihn und sagte: „Guten Tag, ich bin der kleine Junge, du mußt nicht erschrecken!“
„Guten Tag“, sagte der Blinde, „du hast mich nicht erschreckt. Ich habe deine kleinen Schritte gehört und wußte, daß da kein großer Mensch kommt.“
„Kannst du gar nichts sehen?“ fragte der kleine Junge.
„Gar nichts!“ antwortete der Blinde.
„Seit wann?“ fragte der kleine Junge.
„Immer schon“, antwortete der Blinde.
„Das ist schlimm“, sagte der kleine Junge, „bist du da sehr traurig?“
„Aber nein“, antwortete der Blinde, „ich habe doch viele Freuden. Zum Beispiel kann ich lesen. Weißt du mit den Fingern, die berühren die Schriftzeichen.“
„Lesen ist schön“, sagte der kleine Junge, „mein Großvater sagt, mit dem Lesen kommt man in andere Welten.“
„Ja, dein Großvater hat recht“, sagte der Blinde, „und es ist auch schön, in der Sonne zu sitzen.“
„Aber du siehst die Sonne nicht?“ fragte der kleine Junge.
„Nein, ich sehe auch die Sonne nicht“, erwiderte der Blinde, „aber ich spüre die Sonnenwärme auf meiner Haut. Das tut gut. Und ich höre hier am Wald die Stimmen der Vögel. Manchmal weht auch ein würziger Duft aus dem Wald bis zu mir“, fuhr der Blinde fort, „das alles ist sehr schön.“
„Wenn meine Mutter Kartoffelpuffer backt“, sagte der kleine Junge, „dann muß ich immer schnuppern. Das ist herrlich!“
„Kartoffelpuffer mit Rosinen?“ fragte der Blinde.
„Ja, mit Rosinen“, bestätigte der kleine Junge, „die sind lecker.“
„Ich mag sie auch gern“, sagte der Blinde, und dann fragte er: „Weißt du, was besonders schön ist?“
„Was denn?“ wollte der kleine Junge wissen.
„Musik“, sagte der Blinde, „Musik nimmt einen mit wie auf eine Reise. Man wird fortgetragen und ist glücklich.“
Der kleine Junge sagte: „Und ich mache dann meine Augen zu. Dann höre ich noch besser.“
„Ja“, fügte der Blinde hinzu, „da braucht man die Augen nicht.“
Der kleine Junge stand auf: „Auf Wiedersehen“, sagte er und verbesserte sich sofort: “Auf Wiedertreffen!“
“Auf Wiedertreffen!“ entgegnete der Blinde.
 

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