Der kleine Junge und die schöne Frau

von Joachim Klinger

© Joachim Klinger
Der kleine Junge und die schöne Frau
 
Der kleine Junge kam zu einer schönen Frau.
 
Sie saß am Tisch, hatte ihr Gesicht in beide Hände gelegt und weinte. Vor ihr stand das Bild eines jungen Mannes.
Der kleine Junge setzte sich schweigend auf einen Schemel und wartete eine Weile.
 
Dann deutete er auf das Bild und fragte: „Ist er tot?“
Die schöne Frau blickte auf und sagte: „Aber nein! Was willst du?“
 
„Warum weinst du dann?“ fragte der kleine Junge.
„Das verstehst du nicht“, sagte die schöne Frau.
 
„Ich habe auch geweint“, sagte der kleine Junge, „damals, als die Sache mit Lore passierte.“
Die schöne Frau wurde aufmerksam. „Was passierte?“ fragte sie.
 
„Das war im Kindergarten“, sagte der kleine Junge, „wenn wir uns aufstellen mußten, nahm die Lore immer meine Hand. Sie hatte dicke Zöpfe und schöne Augen. Aber eines Tages hat sie mich stehen lassen und wollte mir die Hand nicht geben.“
 
„Warum?“ fragte die schöne Frau.
„Ich habe sie gefragt“, sagt der kleine Junge, „meine Mutter will nicht, daß ich mit dir spiele, sagte sie.  Sie meint, du seiest armer Leute Kind. Danach habe ich zu Hause geweint.“
 
Die schöne Frau nahm das Bild des jungen Mannes an sich. „Ja“, sagte sie, „bei mir ist das so ähnlich. Es tut weh.“
„Ja“, sagte der kleine Junge, „aber nun habe ich einen Freund, und es tut nicht mehr weh.“
 
Die schöne Frau schob das Bild des jungen Mannes in die Tasche und sagte: „Ja, es wird dauern.“
 
„Ich gehe jetzt zu meinem Freund“, sagte der kleine Junge und stand auf. „Mein Großvater sagt: man trifft immer wieder Menschen, die nett sind.“
 
Die schöne Frau lächelte und nickte.

 


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