Lyrische Urknälle und akustischmotorische Genüsse

Alfred Brendel und Fabian Müller zum 100. Geburtstag von György Ligeti

von Johannes Vesper

Alferd Brendel - Foto © Johannes Vesper

Lyrische Urknälle und akustischmotorische Genüsse
 
Alfred Brendel und Fabian Müller zum 100. Geburtstag von György Ligeti
 
Von Johannes Vesper
 
Vor gut zwei Wochen hätte György Ligeti seinen 100. Geburtstag gefeiert (28.05.1923). Das Klavierfestival-Ruhr ehrt ihn deswegen in diesem Jahr mit etlichen Konzerten. Am 15.06.2023 gab es einen anrührenden Abend der besonderen Art mit zwei Pianisten. Der junge Fabian Müller spielte Ligetis Etüden, und der alte Alfred Brendel las Unsinnsliteratur. Denn er hat sich mit seinem letzten öffentlichen Auftritt als Pianist (2008) nicht aus der Szene verabschiedet. Seine Lesungen (z.B. zu Goethe und Beethoven 2022) erweitern die künstlerischen Horizonte, deren Grenzen er 2019 beim Jubiläumskonzert der Weltstars in Wuppertal mit einem Fernrohr kaum erspähen aber mit einem eigenen Gedicht doch erweitern konnte. Bei der Lesung in Haus Fuhr in Essen-Werden will er der „Tyrannei des Normalen, Realen und Vernünftigen entrinnen“, verweist auf den Romantiker Ludwig Tieck, der sich ein Buch „ohne Zusammenhang, voll widersprechendem Unsinn“ wünschte und macht sich mit seinen Unsinnstexten gedanklich völlig frei. Gibt es etwa Zusammenhänge zwischen Unsinn und Musik? Ist die Sinn-Frage im Zusammenhang mit Musik sinnvoll? Ihr pädagogischer Sinn manifestiert sich u.a. im Educationsprojekt des Klavierfestivals in Duisburg Marxloh, bei dem Fabian Müller sich seit Jahren engagiert. Seine Fans dort unter den beteiligten Schülern seien von ihm schwer begeistert, erzählte Franz Xaver Ohnesorg. Merkwürdig, daß Sinn und Unsinn als Stichwörter im berühmten wie dicken Riemann Musiklexikon sich nicht finden. Hat reine Musik Sinn aus sich heraus? Welchen Sinn haben eine Mozart Sinfonie, ein Bachsche Toccata oder Klavierstücke von Ligeti? Philosophen kann man diese Sinnfrage nicht überlassen. Immanuel Kant schrieb vor allem von der Aufdringlichkeit der Musik und schätzte sie nicht, „weil sie bloß mit Empfindungen spielt“. Vielleicht ist das aber gerade der Schlüssel zu ihrem Sinn, der tatsächlich nur darin bestehen könnte, uns sinnlich zu verzaubern, unser Gefühl anzustoßen. Das Konzert ist angekündigt unter dem Titel „György Ligeti zum 100.“ Der war, in Siebenbürgen geboren, von Nazi-Deutschland und anschließend unter der kommunistischen Diktatur in Ungarn verfolgt worden. Bruder und Vater starben im KZ. Er weiß, was Todesangst ist, und hat seit seiner Emigration 1956 mit außerordentlich phantasievoller Ironie und Absurditäten Liebe, Laster, zwischenmenschliche Beziehungen aufs Korn, und sich selbst, zwischen Komik, Tragik und Banalität schwankend, nicht so furchtbar ernst genommen (siehe dazu seine Oper „Le Grand Macabre“! Lohnend!). Jetzt aber zum Konzert:
 

Fabian Müller - Foto © Johannes Vesper

Seine Étüdes bezeichnet er selbst als „akustischmotorische“ Genüsse hoher pianistischer Virtuosität, die „vom einfachen Kerngedanken ins Hochkomplexe“ führen. Das war für das begeisterte Publikum beim lebendigen, kraftvollen wie zarten und hochkonzentrierten Spiel von Fabian Müller unbedingt sinnhaft wie plausibel, der authentisch wie immer beim Klavierspiel dem „inneren Kern der Musik“ nachspürt. Da wird ein Ton variiert nach Tonlänge, Tonlage über die gesamte Klaviatur, aufregend ist das. Oder es werden Quinten ausgedeutet. Traumhaft wie der Pianist dem verdämmernden Nachhall nachspürt. Sich langsam entwickelnde Dynamik baut sich auf zu FFF, welches plötzlich abbricht im pp zart, kaum hörbar sich fängt und langsam erneut aufbaut. Besonders beeindruckte „Herbst in Warschau“ in kantablem Presto „molto ritmico e flessibile“. Immer wieder gab es Sonderapplaus auch von Alfred Brendel! Die Etüden Ligetis wurden ergänzt von den Splitter op. 6d von György Kurtag (geb. 1926), der ebenfalls beim Ungarnaufstand Ungarn verlassen hatte und zu dessen Schülern z.B. Andras Schiff gehört, der beim Klavierfestival auch immer wieder auftritt. Abwechselnd zu der oft motorisch grellen, seltenen lyrisch nachdenklichen Musik las Alfred Brendel eindrucksvoll wie klar Unsinnstexte von Charles Amberg (1894-1946), Hans Arp (1886-1966). Daniil Charms (1905-1942, verhungert im belagerten Leningrad!), Welimir Chlebnikow (1885-1922), Ernst Jandel (1925-2000), Christian Morgenstern (1871-1914), Paul Scheerbart (1863-1915), Kurt Schwitters (1887-1948) und von Alfred Brendel (geb. 1931) also sich selbst. Da trommelten Großdrachen, war die Rede von einer Nase, die aussah wie ein Mund mit zwei Ohren, nicht vergessen wurde natürlich das große Lalula, bei dem sich Alfred Brendel urkomisch durch den blödsinnigen Wortsalat getastet hat, auch nicht das einsame Knie (sonst nichts) war zu hören. Wenn die Haare grün werden, hat man sich zu lange im Grünen aufgehalten, erfahren wir und – beruhigend - daß man im Jenseits alles nachholen kann, was man im Diesseits verpaßt hat, hoffentlich auch den Spaß am Blödsinn, der wahrscheinlich jung hält. Bei weiterem Interesse an solch „lyrischen Urknällen“ wird verwiesen auf Brendels Gedichte („Spiegelbild und schwarzer Spuk“ , Hanser). Für den großen Schlußapplaus bedankte sich Fabian Müller noch mit dem Ricercata III mit dem witzigem einzelnen Schlußton. Dann verließen unter Applaus des aufgestandenen Publikums die Künstler, Alfred Brendel schwer gebeugt am Arm von Franz Xaver Ohnesorg, durch den Mittelgang den Saal.
 

Franz Xaver Ohnesorg - Foto © Johannes Vesper

Im Programm waren alle 38 Auftritte von Alfred Brendel seit 1996 aufgelistet. In Wuppertal ist sein 75. Geburtstag mit dem „Ständchen“ von Till Fellner und Adrian Brendel unvergessen. Sein 90. Geburtstag wurde 2021 in Düsseldorf gefeiert mit u.a. der Uraufführung des Klaviertrios „fast zu ernst“ (von Kit Armstrong, Auftragswerk des Klavierfestivals zum Anlaß). Fabian Müller war zum 28. Male beim Klavierfestival (Debüt 2008) mit Solorezitals, etlichen Präsentationen des Educationsprogramms und anderem.
 
Klavierfestival-Ruhr Donnerstag, 15. Juni 2023, 20:00 Uhr, Essen Haus Fuhr, Alfred Brendel (Lesung), Fabian Müller (Klavier), György Ligeti zum 100. Programm: György Ligeti Musica Ricercata 1 / Études (Auswahl), György Kurtag; Splitter op 6d.