Deutschsein lernen

Gedenkan an die Opfer von Solingen

von Lothar Leuschen​

Foto © Anna Schwartz
Deutschsein lernen
 
Gedenkan an die Opfer von Solingen
 
Von Lothar Leuschen​
 
Was die Mädchen und Frauen der Familie Genç am 29. Mai 1993 in ihren letzten Minuten durchlebt haben, kann niemand nachempfinden. Umso größer wirkt Mevlüde Genç, die trotzdem, trotz des Verlustes ihrer Kinder zu einem friedlichen Miteinander aufrief. An sie und an die fünf Todesopfer hat Nordrhein-Westfalen am Montag, am Jahrestag des Schwerverbrechens, erinnert. Und fortan erinnert in Solingen ein Platz an diese beeindruckende Frau, die im vergangenen Jahr gestorben ist.​
 
Was in der Nacht des 29. Mai 1993 geschehen ist, haben Polizei und Justiz aufgeklärt. Die deutschen Brandstifter sind verurteilt. Sie sind und bleiben Täter. Sie sind nicht Opfer irgendwelcher Umstände. Daß Tat und Strafmaß in einem Verhältnis stehen sollen, ist Kern des deutschen Rechtssystems. Die Gesellschaft hat damit auch auf die Gerichtsbarkeit von Nazi-Deutschland reagiert, in der Haß und Ideologie viel zu oft das Strafmaß mitbestimmten. Es ist gut, daß heute anders Recht gesprochen wird. Doch auch 30  Jahre nach der Tat beschleichen den Beobachter Zweifel daran, daß die Verhältnismäßigkeit von Tat und Strafe in diesem Verfahren überhaupt je hätte gewahrt werden können.​
 
​Immer noch laboriert die Gesellschaft an dem, was der Familie Genç angetan worden ist. Haß, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit sind Alltag in Deutschland. Vielleicht ist es an der Zeit, eine Debatte über Deutschsein zu führen. Vielleicht braucht es Staatsbürgerkunde, um auch den letzten „Biodeutschen“ zu lehren, daß es viele Gründe gibt, stolz auf dieses Land zu sein, daß Deutschland jedoch auch eine sehr dunkle Geschichte hat. Eine Geschichte, aus der sich das Land unter Schmerzen, aber mit Disziplin und Eifer als erfolgreiche Demokratie beispielhaft in die Mitte der Weltgesellschaft gekämpft hat. Das ist deutsch. Und dieses Deutschsein ist besser als der dumpfe Nationalismus, dem beispielsweise die AfD mit zunehmendem Erfolg das Wort redet. Modernes, selbstbewußtes Deutschsein läßt das Fremde zu, das in aller Regel mit der Zeit vertraut wird. Und mit dem Wissen aus 90 Jahren seit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten ist es lernbar.​
 
 
Der Kommentar erschienen am 30. Mai 2023 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.