Sehnsuchtsvoller Gesang aus trockenen Kehlen

„Die Zikaden“ von Ingeborg Bachmann als Live-Aufführung mit Solisten und Zupforchester

von Anne-Kathrin Reif


Sehnsuchtsvoller Gesang aus trockenen Kehlen
 
Das Hörspiel „Die Zikaden“ von Ingeborg Bachmann
erlebt in Wuppertal eine Auferstehung als Live-Aufführung mit Solisten und Zupforchester
 
Ingeborg Bachmanns Hörspiel „Die Zikaden“ ist seit der Uraufführung 1955 mit der Musik von Hans Werner Henze nicht mehr neu vertont worden. Dabei ist das Kernthema des Stücks – die existenzielle Frage danach, ob man sich der eigenen Vergangenheit und der Realität gesellschaftlicher Verhältnisse entziehen und auf eine „glückliche Insel“ flüchten kann und darf ­– zeitlos und hoch aktuell zugleich. Die für vielfältige, spannende Projekte bekannte Wuppertaler Musikerin Gunda Gottschalk verleiht dem Stück eine neue, zeitgemäße musikalische Form und bringt es als ca. 70minütiges Live-Hörspiel in großer Besetzung in Wuppertal auf die Bühne. Vier Solisten und Solistinnen lassen die verschiedenen Charaktere des Hörspiels mit Sprache und Gesang lebendig werden. Tragende Bedeutung komme der Musik zu, erläutert Gunda Gottschalk: „Die Musik transportiert sowohl die Spannungen und Konflikte der Protagonisten wie auch die ersehnte Schönheit südlicher Stimmung und den Gesang der Zikaden.“ Live Elektronik, Tamburin – gespielt von dem sizilianischen Spezialisten Davide Campisi ­–, Violine und Tuba werden ergänzt von dem internationalen zehnköpfigen Zupforchester „Chordofonia“. Komponierte Vorgaben setzen dabei einen Rahmen für improvisatorische Freiräume der Musiker. Im Verlauf des Hörspiels entwickelt sich der trockene Gesang der Zikaden zu sehnsuchtsvollen menschlichen Stimmen: „So wird die der Textvorlage von Ingeborg Bachmann innewohnende poetische Utopie zum Klingen gebracht und neben die gleichzeitig immer vorhandene Hoffnungslosigkeit gestellt“, beschreibt Gottschalk das Konzept.
 

Kammerorchester Chordofonia - Foto © Cintia Barroso

Ingeborg Bachmann (1926-1973) gilt nicht nur als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Prosaschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts, sie zählt auch zu den Schöpfern des modernen Hörspiels als selbständige literarische Form. Mit dem Hörspiel „Die Zikaden“ schuf sie eine aus mediterranem Traum und Erlebnis entstandene Parabel vom Leben als dem Dasein auf einer Insel. Eine Handlung im engeren Sinne gibt es nicht: Das Stück lebt von den Dialogen und Monologen seiner Protagonisten. Jeder von ihnen hat sich aus anderen Gründen auf die Insel geflüchtet; angetrieben von der Sehnsucht, der Welt (oder der eigenen Vergangenheit) zu entfliehen. Nur Antonio ist auf der Insel zuhause, wo er die verschiedensten Aufgaben übernimmt. Ingeborg Bachmann konfrontiert jeden der zugereisten Fremden mit Antonio, der auf all ihre Fragen mit „Ja“ antwortet – und stets die letzte, entscheidende Frage verneint. Nämlich immer dann, wenn die Frage den Wunsch erkennen läßt, der Wirklichkeit zu entfliehen.
 
Der Gesang der Zikaden ist ein durchgängiges, ambivalentes Motiv in dem Hörstück. Inbegriff südlicher Stimmung ist er ein Sehnsuchtsmotiv schlechthin und spiegelt das Thema der „Flucht in die Schönheit“, das allen Protagonisten anhaftet. In einigen Kulturen werden Zikaden als Symbole der Wiedergeburt und Unsterblichkeit betrachtet. Als Tiere, die zur stillen „Siestazeit“ lärmen, stehen sie in dem Hörstück aber zugleich für ein wachhaltendes Mahnen daran, daß man der Wirklichkeit nicht entfliehen kann – jedenfalls nicht, ohne seine Menschlichkeit preiszugeben. Bachmann rekurriert dabei auf den Mythos der Zikaden, den Sokrates in Platons Dialog Phaidros erzählt. In ihren Worten:
 
„Die Zikaden waren einmal Menschen. Sie hörten auf zu essen, zu trinken und zu lieben, um immerfort singen zu können. Auf der Flucht in den Gesang wurden sie dürrer und kleiner, und nun singen sie, an ihre Sehnsucht verloren - verzaubert, aber auch verdammt, weil ihre Stimmen unmenschlich geworden sind.“
 
Anne-Kathrin Reif
 
Mitwirkende:
Gunda Gottschalk (Violine, Idee & musikalische Konzeption), Davide Campisi (Tamburin), Carl Ludwig Hübsch (Tuba & musikalische Konzeption), Florian Zwißler (Elektronik), „Chordofonia“ Zupforchester; Rezitation und Gesang: Jochen Bauer, Bernhard Glose, Luise Kinner, Miriam Vanneste-Vratz; Regie: Jakob Fedler.
Termine & Tickets:
Freitag, 9. Juni 2023, 20 Uhr:
Codeks Arena im Elba-Zukunftswerk, Moritzstraße 14, 42117 Wuppertal
Sonntag, 11. Juni 2023, 11 Uhr (Matinée): Historische Stadthalle Wuppertal (Mahlersaal), Johannisberg 40, 42103 Wuppertal
www.wuppertal-live.de
Förderer:
Kunststiftung NRW, Musikfonds e.V. Berlin, Kulturbüro Wuppertal.