Gescheites Scheitern mit Nobelpreis (1)

Über Max Delbrück, den Wegbereiter der Molekularbiologie

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Gescheites Scheitern mit Nobelpreis (1)
 
Über Max Delbrück, den Wegbereiter der Molekularbiologie
Herbst 2021
 
Von Ernst Peter Fischer
 
„Immer versucht. Immer gescheitert. Einerlei.
Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.“
Samuel Beckett
 
Die Geschichte von Max Delbrück (1906-1981) kann man problemlos als eine Erfolgsgeschichte erzählen, wie sie in seiner Biographie zu finden ist[1]. Er gilt als Wegbereiter der Molekularbiologie, ist 1969 mit dem Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet worden, und es gibt mindestens ein Institut, das seinen Namen trägt, das Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin-Buch, das international als MDC Berlin bekannt ist. Delbrück ist in Fachkreisen früh durch das einflußreiche Buch „Was ist Leben? berühmt geworden,[2] das der Physiker Erwin Schrödinger am Ende des Zweiten Weltkriegs vorgelegt hat und dessen fünftes Kapitel eine „Besprechung und Prüfung von Delbrücks Modell“ liefert, wie die Überschrift ankündigt. Schrödinger bezieht sich dabei konkret auf eine Arbeit, die Delbrück zusammen mit dem russischen Genetiker N.W. Timoféef-Ressovsky und dem deutschen Physiker K.G. Zimmer 1935 verfaßt hat[3] und in der das interdisziplinär vorgehende internationale Trio erstmals den Vorschlag macht, Gene als „Atomverband“ zu verstehen und dementsprechend Mutationen als „Umgruppierungen von Atomen“ zu deuten, wie es bei Schrödinger heißt. Der große Physiker bringt in den 1940er Jahren seine viel gelesene Überzeugung zum Ausdruck, „daß die molekulare Erklärung der Erbsubstanz die einzig mögliche ist“, und fügt dem unmißverständlich hinzu, „Wenn das Delbrücksche Bild versagen sollte, müssten wir alle weiteren Erklärungsversuche aufgeben.“[4]
Als Delbrück 1966 seinen 60. Geburtstag feiern konnte, ehrten ihn seinen Kollegen mit der umfangreichen Festschrift „Phage and the Origins of Molecular Biology“, die zu einem wichtigen Dokument der Geschichte der modernen Genetik geworden ist und deswegen zu Delbrücks 100. Geburtstag in einer Centennial Edition neu aufgelegt wurde.[5] Der Name „Phage“ im Titel kürzt das Wort Bakteriophage ab, mit dem Viren gemeint sind, die Bakterien angreifen, wobei Delbrücks große Leistung in den späten 1930er Jahren darin bestand, einen Weg zu finden, um die Konzentration von Phagen genau bestimmen zu können, was es erlaubte, die Virologie und die Molekulargenetik zu quantitativen Wissenschaften zu machen. Dabei hatte sich Delbrück in der frühen 1930er Jahren als Assistent von Lise Meitner noch Gedanken um die Frage gemacht, wie Licht von dem elektromagnetischen Feld eines Atomkerns abgelenkt wird, wobei seine Vorschläge aufgegriffen worden und in heutigen Physikbüchern zu finden sind, die sie als Delbrück-Streuung bezeichnen und berechnen.[6]
Keine Frage – die Geschichte von Max Delbrück kann man problemlos als eine Erfolgsgeschichte erzählen, aber wer dies unternimmt, übersieht, was ihm am Herzen lag und wichtig war. An seinen eigentlichen Zielen ist Delbrück nämlich gescheitert, wie auf den folgenden Seiten erzählt werden soll, wobei das eingangs zitierte Motto von Samuel Beckett nicht nur dazu dient, Delbrücks Vorgehensweise zu charakterisieren, sondern es auch erlaubt, den biographischen Hinweis zu geben, daß beide, der Dichter und der Wissenschaftler, im selben Jahr mit dem Nobelpreis geehrt worden sind. Allerdings ist Beckett nicht nach Stockholm gekommen, was Delbrück enttäuscht hat. Er hat sein Leben lang Becketts Werke gelesen und wollte den Dichter fragen, ob sein Molloy[7] in dem gleichnamigen Roman als ein Homo scientificus gedacht war. Delbrück hat Jahre später in Berlin versucht, Beckett diese Frage erneut zu stellen, und er ist dabei wieder gescheitert. Ob er besser gescheitert ist, wie es sich der Dichter vorstellen konnte, bleibt dabei offen.[8]
 
Der Atomverband

Der aus Berlin stammende Delbrück hat sein wissenschaftliches Leben in den 1920er Jahren als Student der Astronomie und Physik begonnen und in einer theoretisch-physikalischen Doktorarbeit 1929 den Versuch unternommen, die Bindung von Atomen zu verstehen und konkret die Stabilität von Lithiummolekülen zu erklären. Dabei kamen ihm die vielen Rechnereien, die damals noch ohne jede Computerhilfe mit der Hand auszuführen waren, bald „ziemlich stumpfsinnig“ vor[9], und so begann er nach dem Abschluß der Dissertation sich umzusehen und nach anderen Formen und Möglichkeiten zu suchen, originell zur Wissenschaft beizutragen. Delbrück wurde fündig, als er Anfang der 1930er Jahre die Gelegenheit bekam, in Kopenhagen als Postdoc bei Niels Bohr zu arbeiten. 1932 hielt der große Däne einen Vortrag zur Eröffnung eines Kongresses für Lichttherapie, in dem er über „Licht und Leben“ sprach und seine Ansicht verkündete, die Zeit sei gekommen, nach der Erneuerung der Physik und dem revolutionären Verstehen von Licht durch Albert Einstein und andere zu Beginn des 20. Jahrhunderts dasselbe für die Biologie zu unternehmen und beim wissenschaftlichen Arbeiten zu versuchen, auf „die Unmöglichkeit einer physikalischen Erklärung eigentlicher Lebensfunktionen“ zu treffen und somit zu einer völlig neuen Deutung des Biologischen gezwungen zu werden. Bohr meinte, man müsse für das Leben etwas finden, das „analog zu der Unzulänglichkeit der mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Atome sein dürfte“[10], und es ist nicht zu überlesen, daß im Mittelpunkt seines Vorschlags etwas steht, das nicht geht, etwas Unmögliches, etwas Unerklärliches, an dem man scheitern kann und das hinzunehmen ist und das Geheimnis des Lebens ausmacht.   
Delbrück hatte damit ein großes Ziel vor Augen[11], und nach seiner Rückkehr nach Berlin nahm er Kontakt zu dem russischen Genetiker Nicolai Timoféef-Ressovsky auf, der sich in dem in Berlin-Buch angesiedelten Kaiser-Wilhelm-Institut für Hirnforschung mit Fruchtfliegen (Drosophila) beschäftigte. Er analysierte Mutationen, die durch den Einsatz von Röntgenstrahlen zustande kamen und durch erhöhte Intensität vermehrt werden konnten. Delbrück verstand, daß die bis zu diesem historischen Zeitpunkt in den Zellkernen unzugänglich bleibenden Gene damit zu physikalischen Objekten wurden, für die er den Namen „Atomverband“ vorschlug und deren Größe und Stabilität oder Veränderlichkeit (Mutationsrate) er durch die meßbare Trefferquote der eingesetzten Strahlung von wechselnder Intensität zu berechnen hoffte. Wissenschaftshistorisch ist dabei von einer Targettheory oder Treffertheorie die Rede,[12] der man inzwischen zugesteht, zum Verständnis der biologischen Wirkung von Strahlungen beitragen zu können, die Delbrück aber in den 1930er Jahren nicht geholfen hat, sein eigentliches Ziel zu erreichen, nämlich die Unzulänglichkeit einer mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Gene zu erkennen, um Bohrs Worte aus der Rede über „Licht und Leben“ aufzunehmen.
Als Bohr auf die Unmöglichkeit eines klassischen Verstehens der Stabilität von Atomen hinwies, hatte er das in Fachkreisen berühmte Experiment von Ernest Rutherford im Sinn, bei dem der Neuseeländer 1911 Alpha-Strahlen auf extrem dünne Goldfolien gelenkt hatte und bemerken mußte, daß ein Teil der eingesetzten Alpha-Teilchen direkt auf ihn zurückkam.[13] Rutherford zog daraus den Schluß, daß die Atome in der Goldfolie – und nicht nur sie – einen Kern haben mußten, und wenn er im Anschluß an diese grundlegende Einsicht auch sofort das Bild entwarf, das er als das Saturn-Modell eines Atoms vorstellte, so wußte er doch, daß diese Konstruktion mit den Gesetzen der klassischen Physik unvereinbar war. Ein Atomkern mußte nämlich von den Elektronen umkreist werden, die Physiker seit dem Ende des 19. Jahrhunderts kannten, und wenn negativ geladene Teilchen beschleunigt werden – sonst können sie sich nicht im Kreis bewegen –, dann geben sie nach den Gesetzen der Physik Energie ab, und das liefert genau den Grund für die „Unzulänglichkeit der mechanischen Analyse für das Verständnis der Stabilität der Atome“, wie Bohr es Anfang der 1930er Jahre genannt hat. Er selbst hatte 1911 mit Rutherford zusammengearbeitet und durch die Einführung von Quantenbedingungen das Saturn-Modell retten können, und Delbrück hoffte, mit seiner Treffertheorie etwas Vergleichbares erreichen zu können, was ihm verwehrt geblieben ist. Bohrs Atommodell von 1913 sorgte nicht nur für den Anfangserfolg der Quantentheorie, sondern machte auch die Grenzen der klassisch-physikalischen Denkweise deutlich. Genau solch eine Situation wollte Delbrück in der Biologie finden, wobei er sich zunächst um Fragen der Vererbung kümmerte.
 
Die Hinwendung zu den Phagen

Um es deutlich zu sagen: Delbrücks Ehrgeiz bestand darin, in der Biologie eine Versuchsanordnung zu finden und auf eine experimentell bedingte Situation zu treffen, die der Erfahrung entspricht, die Rutherford 1911 mit seinen Streuversuchen machen konnte und die einen Forscher dazu zwingt, die herkömmlichen Theorien – das klassische Paradigma – aufzugeben und durch eine völlig neuartige Erklärung zu ersetzen. Als er bei seinem ersten Schritt in die Biologie und der Zusammenarbeit mit Timoféef-Ressovsky und Zimmer das Erwünschte nicht erreichen konnte, half ihm ab 1937 ein Stipendium der Rockefeller Stiftung, in den USA einen nächsten Versuch zu unternehmen, wobei noch ein weiterer Rat von Bohr in Delbrücks Hinterkopf auf seine Chance zur Umsetzung wartete. In der Erinnerung von Delbrück hatte Bohr nämlich noch empfohlen, es in der Biologie (Genetik) zu machen wie in der Physik, also mit dem einfachsten System zu beginnen und sich von dort aus nach oben vor zu arbeiten. Bohr meinte, die Physiker hätten das Glück gehabt, das Licht des Wasserstoffs untersuchen zu können, und Delbrück hoffte nun für sein Vorhaben, das „Wasserstoffatom“ der Biologie finden zu können. Als er 1937 am California Institute of Technology in Pasadena ankam – diese Universität hatte die Rockefeller Stiftung empfohlen, weil hier viel mit Drosophila gearbeitet wurde und man nirgendwo in den USA besser Genetik lernen konnte –, fand er zu seinem Entzücken einen Biochemiker namens Emory Ellis, der sich nicht mit Fliegen, sondern mit Viren und Bakterien beschäftigte, was Erforscher der Vererbung allein deshalb kalt ließ, weil man damals noch meinte, Bakterien kämen ohne Gene aus. In den nächsten Jahren konnte Delbrück – in Zusammenarbeit unter anderem mit dem italienischen Biophysiker Salvadore Luria – nicht nur zeigen, daß auch die Mikroorganismen ihr eigenes Erbmaterial haben, sondern auch, daß sich bakterielle Gene so zufällig verändern, wie es das evolutionäre Denken seit Charles Darwin forderte.
Um diese nobelpreiswürdigen Leistungen soll es hier nicht gehen, sondern darum, daß Delbrück meinte, in den Versuchen von Ellis, der mit seinen Untersuchungen zu den Bakteriophagen oder Phagen ursprünglich medizinische Absichten verfolgte und Infektionen und sogar das Auftreten von Krebs in den experimentellen Griff bekommen wollte, das ersehnte Wasserstoffatom der Biologie gefunden zu haben. Was konnte das sich entwickelnde Leben einem Forscher Einfacheres bieten als einen Phagen, der nichts anderes tat, als sich zu vervielfältigen und dessen Vermehrung Delbrück bald quantifizieren konnte, wobei ihm seine statistischen Kenntnisse aus der Physik zu Hilfe kamen. Delbrücks quantitative Analyse des Wachstums von Phagen trat seit den 1940er Jahren die Revolution der Molekularbiologie los, die 1953 ihren Höhepunkt begehen konnte, als die berühmte und elegante Struktur des Erbmaterials vorgestellt wurde, die Doppelhelix aus DNA[14]. Doch als alle Welt feierte, zog sich Delbrück aus der Erforschung der Vererbung zurück und wandte sich einem völlig anderen Bereich der Biologie zu, nämlich der Sinnesphysiologie und der biochemischen Analyse von Wahrnehmung, wie jetzt zu erläutern ist. Mit der DNA kam es ihm so vor, als ob die Vererbung durch Chemie erklärt werden konnte, und Physiker wie Schrödinger und Delbrück versuchten möglichst ohne diese Disziplin auszukommen, was nicht gelingen konnte. Bei allem Respekt, den man Schrödingers „Was ist Leben?“ zollt, sollte nicht übersehen werden, daß der Nobelpreisträge Max Perutz zum Beispiel scharfe Kritik an dem physikalischen Ansatz und den Bezug auf Delbrück übt, weil das Leben nicht ohne die Chemie verstanden werden kann, die ihre eigene Ebene zwischen der Physik und der Biologie einnimmt.[15] Für Perutz sind Delbrück und Schrödinger bei der Antwort auf die Frage „Was ist Leben?“ gescheitert, weil sie die Chemie ignoriert haben. Als die Doppelhelix aus DNA deren Rolle überdeutlich machte, hat Delbrück das Feld der Genetik verlassen. Er mußte etwas Neues versuchen. 


[1] Fischer E.P., Das Atom der Biologen, München 1988

[2] Schrödinger, E., Was ist Leben? (mit einer Einführung von Fischer, E.P.), München 1987

[3] Timoféef-Ressovsky, N.W., Zimmer, K.G. und Delbrück, M., Über die Natur der Genmutation und der Genstruktur, Nachr. Ges. Wiss. Göttingen (1935), Math.-Phys. Kl. Fachgruppe 6, Nr. 13, 190 - 245  

[4] Ref. 2, S. 106

[5] Cairns, J., Stent, G.S. und Watson, J.D. (Hrsg.), Phage and the Origins of Molecular Biology, New York 1966, Centennial Edition New York 2007

[6] Rohrlich, F. und Gluckstern, R.L., Forward Scattering of Light by a Coulomb Field, Phys. Rev. Band 86, S. 1-9 (1952)

[7] Beckett, S., Molloy, erschienen 1951, verschiedene Ausgaben (Suhrkamp Verlag)

[8] Fischer, E.P., Davon glaube ich kein Wort, Stuttgart 2020

[9] Ref. 1, S. 45

[10] Bohr, N., Atomphysik und menschliche Erkenntnis I, Braunschweig 1964, S. 10

[11] Den Eindruck von Bohrs Rede auf Delbrück findet man ausführlich geschildert in Fischer, E.P., Das Licht, das Leben und die Liebe, Stuttgart 2021

[12] Pontecorvo, G., Trends in Genetic Analysis, New York 1958

[13] Rutherford, E., The Scattering of α and ß Particles by Matter and the Structure of the Atom, Philosophical Magazine 6 (21), S. 669-688 (1911)

[14] Ausführlich in Fischer, E.P., Das Atom der Biologen, München 1985

[15] Kilmister, C.W., Schrödinger – Centenary celebration of a polymath, Cambridge 1987


© 2021 Ernst Peter Fischer

Den zweiten und letzten Teil lesen Sie morgen an dieser Stelle!