Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (7)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (7)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
 
 
Das Ende des genetischen Programms
 
Wie Begriffe das Denken tatsächlich zu blockieren in der Lage sind, können die Naturwissenschaftler von Geisteswissenschaftlern lernen, die schon oft Erfahrungen dieser Art gemacht haben. Als Beispiel sei auf die Gespräche hingewiesen, in denen der Philosoph und Ideenhistoriker Raymond Klibansky seine „Erinnerungen an ein Jahrhundert“ schildert.[1] Dabei kritisiert er die Soziologen, die nach dem großen Max Weber kamen. So fortschrittlich dessen Gedanken über die Wissenschaft als Beruf und so faszinierend die von ihm (leider unzutreffend) diagnostizierte Entzauberung der Welt durch ihre rationale Erklärung waren, so fest blieben Webers Nachfolger bei den Vorgaben ihres Lehrers stehen. Für sie – so Klibansky – bestand die Aufgabe ihrer Wissenschaft schlicht und einfach darin, „die Geschichte im Lichte bestimmter Begriffe zu bemeistern“. Wenn einer von ihnen „einen bestimmten Begriff benennen konnte, der die Phänomene zu erfassen schien, glaubte [die Zunft] schon, sie zu begreifen.“
 
Genau so ergeht es den Biologen mit dem genetischen Programm, da sie nicht einsehen wollen, daß es sinnlos bleibt, bei den Zellen und ihren Genen von programmatischen Abläufen zu reden, während ein Embryo heranwächst und seine Zellen sich teilen, wandeln und ihrer Spezialisierung entgegengehen. Die Genetiker scheinen zu denken, daß alle regelmäßigen Abläufe programmatisch sein müssten. Dies ist aber nicht der Fall, wie man sich am Beispiel eines Theaterabends klar machen kann. Hierbei lassen sich zwei Bereiche unterscheiden, und zwar das, was auf der Bühne passiert, von dem, was im Zuschauerraum vor sich geht. Für das, was die Schauspieler auf der Bühne tun, gibt es einen Text, der festlegt, was sie tun, und insofern läßt sich sagen, daß ihre Handlungen programmatisch ablaufen (die ein Regisseur oder Dramaturg sogar nach seinen Wünschen und Vorstellungen neu regeln – also umprogrammieren – kann). Es gibt aber daneben noch das, was sich im Parkett abspielt. Zwar gibt es für vieles von dem, was die Zuschauer tun, Regeln, Etikette und andere gesellschaftlich bedingte Vorgaben, es gibt aber keinen Text dazu. Zwar spielen sich jeden Abend in den Logen, auf dem Rang oder im Foyer etwa die gleichen Szenen ab – jemand hustet, jemand lacht, jemand schläft ein, jemand trinkt etwas in der Pause –, aber die sich hier zeigende hohe und daher eher langweilige Regelmäßigkeit ist auf keinen Fall programmiert.
 
Man sollte nur dann von einem programmatischen Geschehen reden, wenn es neben dem anvisierten und zu erklärenden Geschehen noch ein zweites Ding gibt, das dazu genau paßt (das dazu isomorph ist, wie es technisch genauer heißt) und seinen zeitlichen Ablauf regelt – eben das Programm, das sich in der Frühphase der Computer als langer Lochstreifen zeigte, der entfernt an die DNA-Fäden einer Zelle erinnern konnte. Wer nun mit dieser Vorgabe das molekulare Leben einer Zelle (genauer: der Kenntnis davon) betrachtet, kann einen Ablauf erkennen, der programmatisch vor sich geht. Gemeint ist der erste Schritt bei der Herstellung der Genprodukte, die als Proteine die letztlich die ungeheuer aufwendige biochemische Arbeit in einer Zelle übernehmen. Wie die Gene sind auch die Proteine als Ketten gebaut, und der erste Schritt, den eine Zelle bei der Synthese eines Proteins tut, besteht in der Umwandlung der dafür zuständigen Gensequenz in die Folge der Bausteine, aus denen das Protein besteht. Dieser Schritt, die Herstellung der so genannten Primärstruktur, verläuft offenkundig programmatisch. Denn für das, was wir in einem Genprodukt finden, gibt es den genetischen Text. Doch weiter reichen seine Anweisungen nicht. Nach diesem ersten (programmatischen) Schritt gibt es keinen Platz mehr für die Verwendung der beliebten Vokabel. Mit der Reihenfolge der Proteinbausteine endet das Programm in der Zelle, die sich nun auf andere Formen der Naturgesetzlichkeit (Algorithmen) einläßt, von deren Verständnis vor allem diejenigen Biologen weit entfernt bleiben, die unentwegt von genetischen Programmen reden und meinen, es dabei bewenden lassen zu können.
 
Doch es gilt, noch einen Schritt weiter zu gehen, denn die entscheidende Frage heißt ja nicht, wie Zellen funktionieren, sondern wie Organismen entstehen. Und hier funktioniert erst recht kein genetisches Programm, denn die maßgebliche Beobachtung bei dem Werden des Lebens mit seinen Formen besteht darin, daß die Organismen dies alleine und aus sich heraus machen. Das Leben mit seinen Genen kann also genau das, was Computer mit ihrem Programm nicht können – sich selbst hervorbringen. Organismen agieren anders als Maschinen, und sie entstehen anders als sie, nämlich nicht durch Pläne und Maßnahmen von außen, sondern durch und aus sich selbst, und dabei laufen Vorgänge ab, bei denen Plan und Ausführung zusammengehören und gerade nicht so getrennt werden, wie dies in einer Fabrik und bei mechanischen Herstellungen oder in Computern der Fall ist.
 


[1] Raymond Klibansky, Erinnerung an ein Jahrhundert, Frankfurt am Main 2001


© 2022 Ernst Peter Fischer
 
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