Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft

Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (6)

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Naturwissenschaft als Geisteswissenschaft
 
Ketzerische Gedanken eines Biophysikers (6)
 
Von Ernst Peter Fischer
 
 
Die zwei Kulturen
 
Ich habe Rilke, Musil und Beckett zitiert, die alle der literarischen Intelligenz zuzurechnen sind, wobei dieser Ausdruck benutzt worden ist, weil im Jahre 1959 der britische Physiker und Romancier Charles Percy Snow einen bis heute nachwirkenden Vortrag über die „Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz“ gehalten hat, dem er den Titel „Die zwei Kulturen“ gegeben hat.[1] Ihn wurmte die Spaltung in die zwei Welten der Geisteswissenschaft und Literatur auf der einen und der Naturwissenschaften und Technik auf der anderen Seite. Snow ärgerte sich über Snobs, nämlich die Intellektuellen an der Universität Cambridge, an der sein Vortrag stattgefunden hat, die es zwar für wichtig hielten, Shakespeares Sonette und andere Werke des englischen Dichters zu kennen, die aber auf die Frage, ob sie schon einmal vom Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik gehört hätten, nur mit den Achseln zuckten und „so what?“ fragten. „So wird also das großartige Gebäude der modernen Physik errichtet“, stellte Snow fest, „und die Mehrzahl der gescheitesten Leute in der westlichen Welt versteht ungefähr genau so viel wie ihre Vorfahren in der Jungsteinzeit.“
 
In den frühen 1960er Jahren hat der Historiker Jacques Barzun in einem Essay eine vergleichbare Einschätzung von sich gegeben, als er geschrieben hat:[2] „Die westliche Gesellschaft beherbergt gegenwärtig die Wissenschaft wie einen fremden, mächtigen und geheimnisvollen Gott. Unser Leben wird von seinen Werken verändert; aber die Bevölkerung des Westens ist von einem Verständnis dieser seltsamen Macht wohl ebenso weit entfernt, wie ein Bauer in einem abgelegenen mittelalterlichen Dorf es von einem Verständnis der Theologie des Thomas von Aquin gewesen ist.“ Barzun ging dann sogar noch einen Schritt weiter, als er schrieb: „Die Lücke ist heute [1968] sichtlich größer, als sie vor hundert Jahren war, zu einer Zeit, als jeder gebildete Mensch sich die Hauptergebnisse und die einfachen Prinzipien, die damals Physik, Chemie und Biologie ausmachten, aneignen konnte. Die Schwierigkeit heute besteht nicht darin, daß die Wissenschaft mehr Tatsachen entdeckt hat, als sich in einem Kopf zusammenhalten lassen, sie besteht vielmehr darin, daß die Wissenschaft – selbst für die Wissenschaftler – aufgehört hat, eine prinzipielle Einheit und ein Gegenstand der Kontemplation zu sein.“ Wer den Wert und die Größe der Wissenschaft „als stupende Leistung des menschlichen Geistes“ vorstellen und verstehen will, so Barzun, muß die Schritte ihres Werdens unter Beobachtung der gesellschaftlichen Begleitumstände zusammenstellen, die Naturwissenschaften also kritisch und historisch darstellen, und das ist eine geisteswissenschaftliche Aufgabe, an der die Gegenwart kläglich scheitert. Barzun schreibt: „Zu erkennen, was die Wissenschaft ist, was sie tut, und welchen Einfluß sie auf andere Manifestationen des Geistes hat: das ist die Aufgabe für jemanden, der zugleich Kritiker, Historiker und Philosoph und außerdem in einem Wissenschaftszweig und in Mathematik ausgebildet ist“. Wo findet und wie bekommt man solch einen Menschen? Welche Universität bildet ihn oder sie für diese Aufgabe aus? Ich will im Folgenden versuchen, die Palette der Aufgaben eines kritischen Wissenschaftsvermittlers mit Niveau an einem historischen Beispiel vorzustellen.


[1]  Helmut Kreuzer (Hrsg.), Die zwei Kulturen, Stuttgart 1967

[2]  Zu finden als Vorwort in Stephen Toulmin, Voraussicht und Verstehen, Frankfurt am Main 1963


Die genetische Dimension
 
Mein Doktorvater Max Delbrück hat den Nobelpreis 1969 für seine Forschungen aus den Jahren des Zweiten Weltkriegs bekommen. In diesem Zeitraum ist es ihm gelungen, der modernen Molekularbiologie den Weg zum Erbgut – ein schönes Wort – oder zu den Erbanlagen zu bereiten. Am Anfang stand Delbrücks Idee, Gene als einen Atomverband zu verstehen, um die Erbsubstanz des Lebens auf diese Weise der Physik zugänglich zu machen, und am Ende konnte man den Stoff mit Namen DNA in die Hand nehmen, der oben als Urpflanze eingeführt worden ist, und seinen molekularen Aufbau analysieren, was erneut vor allem Physiker hinbekommen haben, die kein Auge für Urpflanzen hatten und dafür nach Informationen suchten. Sie haben sie in den Genen gefunden, die als Ketten gebaut sind, deren Glieder sich chemisch charakterisieren lassen, wobei vier Basen die Hauptrolle spielen. In ihrer Reihenfolge (Sequenz) steckt die genetische Information einer Zelle, wie man sagt, wobei schon erwähnt wurde, daß das vertraut wirkenden Attribut „genetisch“ es in sich hat und älter als das Substantiv „Gen“ ist. Das „Gen“ einer Zelle hat seinen Namen erst im frühen 20. Jahrhundert bekommen, während das „genetische“ bereits am Ende des 18. Jahrhunderts benutzt worden ist, und zwar 1796 durch Goethe, als er die Wissenschaft der Morphologie begründen wollte und dabei „die Notwendigkeit der genetischen Methode für alle Naturwissenschaft betonte. Was dabei zuletzt und allgemein angestrebt wird, könnte man eine Theorie des Werdens nennen, von der man derzeit nur erste Anfangsgründe erblicken kann, die schon ziemlich vertrackt sind und womit die Quantenmechanik gemeint ist, was als Anmerkung genügen und neugierig machen soll.[1]
 
Hier geht es konkret um die die Wirkung des Erbguts: Wie agieren Gene? Wie bringen sich die Organismen mit ihrer Hilfe hervor und sorgen für die geprägte Form, die lebend sich entwickelt? Dies sind zentrale Fragen, und sie stellen sich bis heute. Zu ihrer Beantwortung reicht die Wissenschaft längst nicht mehr aus, die sich aus der Physik entwickelt hat, heute im Gewand der Genetik erscheint und mit dem Vornamen „Molekular“ angeredet wird. Um sagen zu können, wie die Gene ihre Wirkungen erzielen, muß über das Naturwissenschaftliche hinausgedacht und anders argumentiert werden, als es die exakten Wissenschaften in traditioneller Weise tun, wenn sie sich an der Physik orientieren – wobei dies oft aus gutem Grund und mit großem Erfolg geschehen ist.
 
Als Kronzeuge für diese physikalische Sackgasse kann der legendäre Sydney Brenner zitiert werden, der seit den Achtziger Jahren darauf hingewiesen hat, daß die Entwicklung des Lebens nicht durch die traditionellen molekularen Mechanismen verstanden werden kann, denn dafür seien sie trotz aller genetischen Kontrolleinrichtungen zu langweilig. Viele Molekularbiologen werden an dieser Stelle widersprechen, weil sie denken, die Wissenschaft könne die Frage, „Wie Gene die Entwicklung steuern“, doch längst beantworten, schließlich gibt es ein Buch mit genau diesem Titel, „Wie Gene die Entwicklung steuern“.[2] Es stammt von Walter Gehring und erzählt die Geschichte einer Entdeckung namens Homöobox. Mit diesem merkwürdig klingenden Begriff ist ein gar nicht besonders langes Stück Erbsubstanz DNA gemeint – ein genetisches Kästchen –, das die Evolution unter ihren Kindern erstens weit verbreitet und zweites gut konserviert hat. Es findet sich in Genen, die dafür sorgen, daß Körpersegmente an die richtige Stelle kommen. Diese Gene heißen zwar wie der Kasten, der in ihnen steckt, nämlich Homöogene, aber bei anderen Genetikern haben diese Funktionseinheiten interessantere Namen bekommen, und zwar unter anderem „Identitätsgene“ oder „Interpretationsgene“, und wer diese Namen hört und sich Gedanken über Identität und Interpretation machen will, wird bald merken, daß er oder sie jetzt die Hilfe der Geisteswissenschaften erbitten sollte. Wenn es um Interpretationen geht, ist die Literaturwissenschaft zuständig, und die Physik sollte auf sie hören, auch wenn sie Genetik genannt wird.
 
Die „Homöogene“ mit ihrer Homöobox haben ihren Namen nach dem griechischen Wort für „ähnlich“ – „homoios“ bekommen. Die Silben sind aus der eher unglücklichen Homöopathie bekannt, deren Grundidee in einem „ähnlichen Erleiden“ des Kranken liegt und die ihm daher Heilmittel verordnet, die dem Erreger ähnlich sind. Die genetische Homoiosis (oder Homöosis) entstammt der Beobachtung, daß es in der Natur Lebensformen geben kann, bei denen sich an falschen Orten Strukturen bilden, die denen ähnlich sind, die man sonst von anderer Stelle kennt. Konkret gemeint sind Beine, die bei Fliegen da wachsen, wo sonst Fühler sind, oder Antennen, die sich bei Krebsen da zeigen, wo sonst Augen sind. Monster dieser Art sind schon im 19. Jahrhundert in der Natur beobachtet worden und keinesfalls Züchtungen aus Laboratorien.
 
An solchen merkwürdig berührenden Umbauten sind homeotische Gene beteiligt, wie man sagt, und so liegt der Schluß nahe, daß in ihnen oder in ihrem homeotischen Kästchen so etwas wie der Bauplan des Lebens steckt. Doch so aufregend dieser konkrete Gedanke ist, so langweilig bleibt das allgemeine Konzept, mit dem die Genetiker die biologische Entwicklung insgesamt erklären wollen. Das Zauberwort, mit dem an dieser Stelle hantiert wird, das Kaninchen, das die genetischen Künstler aus ihren Reagenzgläsern hervorziehen, heißt „das genetische Programm.“ Gehring ist zum Beispiel fest davon überzeugt, daß die Gesamtheit der menschlichen Gene „ein genaues Programm enthält, nach welchem wir uns entwickeln“.
 
Diese programmatische Idee ist zusammen mit den ersten Computern und ihren Rechenkünsten entstanden, also in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Das deutlichste Bekenntnis zu dieser Beschreibungsweise des Lebens hat der bereits erwähnte François Jacob abgegeben, als er 1972 in seiner „Logik des Lebendigen“ feststellte, „das Programm stellt das genetische Material im Ei dem magnetischen Band eines Computers gleich. Es bedingt eine Reihe durchzuführender Operationen, die Starrheit ihres zeitlichen Ablaufs und den ihnen zugrunde liegenden Zweck.“
 
Die Vokabel und die Vorstellung eines genetischen Programms – und damit ein Maschinenbild des Lebendigen – sind derart weit verbreitet sowohl in der Literatur als auch in den Köpfen
von Experten und Laien –, daß mit Unverständnis rechnen muß, wer darauf hinweist, daß das Konzept nichts taugt. Und die Sache ist noch schlimmer. Das Reden vom genetischen Programm als Basis des sich entwickelnden Lebens verhindert geradezu, daß man versteht, was im Leben abläuft und bei seiner Entwicklung passiert. Es verhindert vor allem, sich darüber Gedanken zu machen, was man an seine Stelle setzen muß, damit die Rolle der vielen entdeckten Homeoboxen verstanden werden kann.


[1] Mehr dazu in meinem Buch „Die Stunde der Physiker“, München 2022

[2] Walter Gehring, Wie Gene die Entwicklung steuern, Basel 2001


© 2022 Ernst Peter Fischer
 
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