Grüne Zerreißprobe

Das Ringen um die richtige Migrationspolitik

von Lothar Leuschen​

Foto © Anna Schwartz
Grüne Zerreißprobe
 
Das Ringen um die richtige Migrationspolitik
 
Von Lothar Leuschen​
 
Die Migrationspolitik in Deutschland hat das Zeug, sich zum Spaltpilz von Bündnis’90/Die Grünen zu entwickeln. Ein von 100 Politikerinnen und Politikern unterschriebenes Memorandum trifft auf innerparteilichen Widerstand. Dazu trägt vermutlich auch bei, daß unter anderem der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer sich an die Spitze der Bewegung gestellt hat, die eine andere Zuwanderungspolitik erreichen will. Im Kern jedoch geht es um Grundsätzliches. Es geht darum, nicht länger den Eindruck zu erwecken, daß Deutschland Menschen in jeder Zahl und aus jedem Grund aufnehmen kann. Es geht darum, daß die große Politik in Berlin ein Gespür für die Herausforderungen der kleinen Politik in den Städten und Gemeinden entwickelt. Es geht um das, was machbar und möglich ist. Hier unterscheiden sich die Positionen elementar.​
 
Für die Grünen bedeutet das eine Auseinandersetzung, die ein weiteres Mal an ihren Grundfesten rührt. Die Haltung zu Waffenlieferungen in die Ukraine ist in und mit der Parteibasis noch gar nicht richtig aufgearbeitet worden, dazu ließ die ebenso atemberaubende wie dramatisch schlechte Entwicklung der weltpolitischen Lage noch gar nicht genügend Zeit. Mit den Ereignissen in aller Welt ist nun die nächste Frage verbunden, die das grüne Selbstverständnis betrifft. Im Kern stehen auf der einen Seite diejenigen, die Deutschland aus ideologischen und friedenspolitischen Überzeugungen als grenzenlosen Zufluchtsort definieren. Auf der anderen Seite sind jene, die an vielen Orten sehen, daß die schiere Menge an Flüchtlingen und Zuwanderungen die Kapazitätsgrenzen längst sprengen. Sie wollen deshalb Klarheit und Regeln dafür, wie viele Menschen aus welchem Grund und woher nach Deutschland kommen sollen und dürfen.​
 
​Es liegt nahe, daß diese Positionen an zwei Enden an einer Partei ziehen, die einmal angetreten ist, Waffen aus der Welt zu verbannen, die Umwelt zu schützen und das Klima zu retten. Plötzlich stehen andere Themen oben auf der Agenda. Willkommen in der politischen Wirklichkeit.​
 

Der Kommentar erschien am 21. Februar 2023 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.