Ein Klaglied im Mund der Geliebten

Schillers „Nänie“: Das Schöne überlebt

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Ein Klaglied im Mund der Geliebten
 
Schillers „Nänie“: Das Schöne überlebt
 
Von Heinz Rölleke
 
Friedrich Schiller ist einer der wenigen deutschen Dichter, die in allen literarischen Gattungen großartige Werke geschaffen haben. Daß er der bedeutendste Bühnendichter ist, beweist die Präsenz seiner zehn Dramen vom Jugendwerk „Die Räuber“ bis zur letzten vollendeten Dichtung „Wilhelm Tell“ auf Theaterbühnen in aller Welt. Thomas Mann hat Schillers Balladen (etwa „Der Ring des Polykrates“, „Die Kraniche des Ibykus“ oder „Der Taucher“) zu den besten Werken deutscher Literatur gezählt. Bis heute stehen seine philosophischen, historischen und ästhetischen Schriften von hohem Rang in der aktuellen Diskussion. Obwohl er nur wenige Prosadichtungen geschrieben hat, sind doch „Der Geisterseher“ und „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ wegweisende Vorläufer der Kriminalnovelle. Ein Lyriker im eigentlichen Sinn war Schiller wohl nie; immerhin aber hat er mit seinem großartigen 14-zeiligen Gedicht „Nänie“ unbezweifelbar ein Meisterwerk geschaffen, das mit Recht Jahrzehnte lang kontinuierlich im Schul- und Universitätsunterricht behandelt wurde. Man führt es in Aufstellungen immer wieder unter die zwei Dutzend der besten und beliebtesten deutschen Gedichte.
 
Nänie
 
Auch das Schöne muß sterben! Das Menschen und Götter bezwinget,
Nicht die eherne Brust rührt es des stygischen Zeus.
Einmal nur erweichte die Liebe den Schattenbeherrscher,
Und an der Schwelle noch, streng, rief er zurück sein Geschenk.
Nicht stillt Aphrodite dem schönen Knaben die Wunde,
Die in den zierlichen Leib grausam der Eber geritzt.
Nicht errettet den göttlichen Held die unsterbliche Mutter,
Wann er am skäischen Tor fallend, sein Schicksal erfüllt.
Aber sie steigt aus dem Meer mit den Töchtern des Nereus,
Und die Klage hebt an um den verherrlichten Sohn.
Siehe! Da weinen die Götter, es weinen die Göttinnen alle,
Daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.
Auch ein Klaglied zu sein im Mund der Geliebten, ist herrlich;
Denn das Gemeine geht klanglos zum Orkus hinab.
 
Bei einer ersten Lektüre des Gedichts kann beim Leser die Vermutung aufkommen, hier werde Wissen über die antike Mythologie abgefragt oder in Erinnerung gerufen. Diese Kenntnisse der griechischen Mythologie waren 1799, zur Zeit, als das Gedicht entstand, allerdings für die meisten Rezipienten noch selbstverständlich geläufig. Es fällt indes auf, daß im Gedicht außer dem (stygischen) Zeus, der Liebesgöttin Aphrodite und dem Meeresgott Nereus keine Gottheit mit Namen, sondern nur in Umschreibungen genannt ist: „Schattenbeherrscher“ ist der Herr im Reich der Toten (Schatten), der Gott Hades, dem bei der Aufteilung der Götterherrschaft dieser Rang zuteil wurde (dem Zeus wurde der Himmel, dem Poseidon das Meer zugesprochen). Hades herrscht jenseits des Unterweltflußes Styx (daher sein Beiname „stygischer“), über den der Fährmann Charon die Verstorbenen führt. Auch die berühmten Figuren der griechischen Mythologie, Orpheus, Adonis und Achill werden nicht namentlich genannt, so daß man wohl gehalten ist, sie durch die Mythengeschichte zu entschlüsseln. Goethe hatte seinen Freund Schiller vor der Entstehung des Gedichtes mehrfach auf das ihm wertvolle „gründliche mythologische Lexikon“ Benjamin Hederichs in der Ausgabe von 1770 hingewiesen. Nicht nur er (vornehmlich in „Faust II“), sondern auch Kleist, viele andere Schriftsteller und eben auch Schiller haben sich nachweislich des Werkes bedient und damit die Kenntnis der Schicksalswege ihrer Protagonisten erweitert. So empfiehlt es sich bei der Interpretation der Idealgestalten, die bei Hederich in reichlicher Fülle angeführten und zum Teil erheblich divergierenden Lebens- und Todeswege zu beachten.

            Die Überschrift des Gedichts bezeichnet in der Antike einen Trauer- und/oder Lobgesang, der den Leichenzug eines berühmten oder geliebten Menschen begleitete. Sie weist ebenso auf die enge Anlehnung an die griechische Dichtung hin, wie die Versform, in der Hexameter und Pentameter zum Distichon verbunden sind. Es ist also ein Gedicht zu erwarten, das inhaltlich und formal den antiken „Nänien“ entspricht, zugleich aber den Anspruch hat, selbst ein solcher Trauergesang zu sein.
Zunächst wird in kürzester Verdichtung auf das Schicksal im tragischen Tod dreier hervorragender Menschen angespielt: Orpheus, Adonis und Achilles.
            Der Gott der Künste, Apollo, hatte dem Sänger Orpheus eine Lyra (Leier) geschenkt. Wenn er mit ihrer Begleitung sang, bewegte er unwiderstehlich Menschen, Tiere, ja selbst selbst Steine und zuletzt sogar den Gott der Unterwelt, der sich ein einziges Mal rühren ließ. Als Orpheus ihn durch seinen Gesang dazu brachte, für ihn die verstorbene Gattin Euridike ins Leben zurückkehren zu lassen. Orpheus kann aus großer Liebe und Sehnsucht die Bedingung, bei dem Gang aus der Unterwelt sich keinesfalls nach der ihm folgenden Gattin umzusehen, nicht erfüllen. So wird Euridike auf der Schwelle zwischen Jenseits und Diesseits „streng“ vom Totengott für immer in sein Reich zurückgerufen. Nach dem gewaltsamen Tod des Orpheus wird seine Leier als Sternbild für ewig an den Himmel gesetzt: Die Kunst überlebt den Tod der Sterblichen.
            Adonis - nach Hederich ein „ungemein schöner“ Jüngling - wird von zwei Göttinnen geliebt und umworben (von der Liebesgöttin Aphrodite, die ihn gewinnt, und von der Totengöttin Persephone, die ihn schließlich in ihr Reich bringt). Der mit Aphrodite verbundene Kriegsgott Ares wurde auf Adonis eifersüchtig, verwandelte sich in einen Eber, der dem Jüngling die tödliche Wunder beibrachte. Aphrodites Versuch, ihn zu retten, scheiterte zwar an der Allgewalt des Todes, aber sie schuf aus dem Blut ihres Geliebten die Anemone und färbte mit ihrem eigenen roten Blut zu seinem ewigen Andenken die zuvor ausnahmslos weißen Rosen. Das Schöne überlebt seinen unentgehbaren Tod in der mythischen Erinnerung und als Idee, wie sie sich etwa in den herrlichen Anemonen und Rosen zeigt.
            Den Knaben Achilles hatte seine göttliche Mutter Thetis unverwundbar zu machen versucht, indem sie ihn in das Wasser der Styx tauchte. Dieses erreichte indessen nicht seine Fersen, an denen die Mutter ihn hielt, so daß ihn Paris beim Kampf am skäischen Tor im Verlauf des trojanischen Krieges an der sprichwörtlich gewordenen Achillesferse tödlich treffen konnte. Die Mutter des gefallenen Helden konnte ihn nicht vom Tod retten. Hederichs Bericht vom Tod des Achilles, den er ausdrücklich eine Schicksalsfügung nennt, und vom Trauergesang für den gefallenen größten Helden des griechischen Heeres hat Schillers „Nänie“ erkennbar beeinflußt, wenn nicht sogar angeregt:
 
                        Weil er nach seinem Schicksale allerdings vor Troja sterben sollte.
                        [Es sollen ihn] die gekommenen Musen und Nymphen zum heftigsten
                        beweinet haben.
                        Soll von den Musen und Nymphen beweinet worden seyn, weil               
                        man bey seinem Begräbnisse eine Trauermusik gemachet.
 
Schillers Gedicht spricht davon, daß Achilles, vor Troja fallend, „sein Schicksal erfüllt.“ Die Meeresgöttinnen, die den Leichnam zusamt einer „Trauermusik“ in Form einer Nänie besingen, sind bei Hederich die „Nymphen“.
            Das Schicksal ist zu allen Zeiten unabwendbar, wie das einleitende „Auch“, das wie der Übergang aus einer vorhergehenden Aufzählung wirkt. Das bringt die Götter, die Göttinnen und die Menschen zum Weinen , die sämtlich glauben, „daß das Schöne vergeht, daß das Vollkommene stirbt.“ Aber das zweite „Auch“, das sich zu Beginn des Finales findet, lehrt etwas anderes: Die Verkörperung des Künstlerischen (Orpheus), des Schönen (Adonis) und des Heldenhaften (Achilles) müssen zwar vergehen, aber im Gegensatz zu anderen Wesen überleben sie in ihrem Mythos und in ihren Symbolen, in der himmlischen Lyra des Orpheus als Sternbild, in der Erschaffung der Anemone und der roten Rose, die ewig von Adonis zeugen werden, und schließlich in der Nänie, dem Trauer- und Ruhmesgesang für Achilles. Es ist sehr bezeichnend, daß ein Mythos um die Nänie sein Gedenken festhält und nicht der bei Hederich unter mehreren angebotene Mythos von der Wiedererweckung des Achilles durch Medea: Es „sey aber solcher auf der Thetis, seiner Mutter, Bitten wiederum lebendig geworden.“
            Schiller setzt die antike Tradition fort, gemäß derer es „herrlich“ ist, daß Verstorbene in Nänien ewig gefeiert werden, daß ihre Tugenden ewig in der Erinnerung und Symbolen weiterleben, während der Tod, wie im Adonis-Mythos angedeutet, das was sterblich an den Idealgestalten ist, in sein Reich holt.
            Johannes Brahms hat 1880 in seiner musikalischen Interpretation des Schiller'schen Textes zwar das Schicksalhafte zunächst dominierend herausgestellt (ganz ähnlich wie schon 1871 im dunklen „ Schicksalslied“ Hölderlins, das zur selben Zeit wie Schillers „Nänie“ entstanden war); hier aber überstrahlt die musikalische Umsetzung des Wortes „herrlich“ glorios und ganz im Sinn des Dichters die schicksalhafte Geworfenheit aller Menschen: In der Kunst kann der Mensch nach Vollendung seines irdischen Schicksals weiterleben.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2023