Das schönste Gedicht?

Deutsche Lyrik: Beliebte Verse

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Das schönste Gedicht?
 
Deutsche Lyrik: Beliebte Verse
 
Von Heinz Rölleke
 
Unter Tausenden deutschsprachiger Gedichte hat man seit einigen Jahren immer wieder eine Rangfolge der bekanntesten und vor allem beliebtesten Texte aufgestellt. Dabei blieben die Ermittlungsmethoden meist fragwürdig. Der Versuch etwa, durch Auszählung der in jüngeren Anthologien erschienenen Gedichte die hundert am meisten vertretenen in einer Rangfolge zusammenzustellen, beruht doch oft auf Zufällen und sagt überhaupt wenig über tatsächliche Beliebtheit dieser Gedichte und schon gar nichts über die Gründe für ihre zeitweise oder dauernde Popularität aus. Auch insgesamt beruhen die Ergebnisse auf heterogenen Vorlieben wie künstlerischem Wert, scheinbar stimmigen zeitübergreifenden Aussagen, sprachlichen Schönheiten, eigenwilligen Vorlieben und vielen anderen, die nicht einheitlich hinterfragt und schon gar nicht nach gleichen Maßstäben gewertet sind. So divergieren denn auch die Umfrageergebnisse der letzten Jahrzehnte recht erheblich, obwohl sich daneben tatsächlich ein kaum wechselnder Kern von etwa einem Dutzend Texten in der Wertung der Leserschaft als besonders beliebt etabliert hat. Der Versuch, durch Auswertung einiger der in den letzten Jahrzehnten in verschiedensten Anthologien erschienenen und meist populären Gedichte die hundert am meisten vertretenen  - wo möglich noch in einer Rangfolge -  zusammenzustellen, sagt noch weniger über die derzeitige tatsächliche Beliebtheit und deren Gründe aus.
            Hier sollen fünf kleine Aufsätze in den Musenblättern die in vielen Beliebtheitslisten schon länger auf einem der ersten Plätze vertretenen Gedichte ins Gedächtnis rufen und nach verschiedenen Gesichtspunkten analysiert. In der zeitlichen Reihenfolge ihrer Entstehung sind dies:
 
1. Matthias Claudius „Abendlied“ („Der Mond ist aufgegangen“)
 
2. Johann Wolfgang von Goethe „Wanderers Nachtlied“ („Über allen Gipfeln ist Ruh'“)
 
3. Friedrich Schiller „Nänie“ („Auch das Schöne muß sterben“)
 
4. Friedrich Hölderlin „Hälfte des Lebens“ („Mit gelben Birnen hänget“)
 
5. Joseph von Eichendorff „Mondnacht“ („Es war als hätt' der Himmel“)
 
Der Anfang sei mit Hölderlin versucht. Der ausgewählte Text wird seit 1900 fast immer zu den schönsten deutschen Gedichten gezählt. Die Verse  entstanden kurz vor dem Ausbruch der Schizophasie des Dichters, wegen der er im September 1806 zwangsweise in eine psychiatrische Klinik eingeliefert und einige Monate später nach einer wenig förderlichen Behandlung als unheilbarer, aber harmloser Geistesgestörter entlassen worden war.
            Der Dichter war schon seinerzeit von Wahn- und Angstvorstellungen gezeichnet, die ihn verzweifelt in die Zukunft blicken ließen. „Ich friere und starre in den Winter hinaus“, heißt es in einem Brief aus dieser Zeit. Die erste Strophe seines Gedichts spricht noch aus der Gegenwart einer wunderbaren Herbstzeit; in der zweiten Strophe wird imaginiert, wie es um das Lyrische Ich im jetzt schon drohenden Winter stehen wird. Im Schwäbischen meint das im Titel angeführte Wort „Hälfte“ nicht die halbe Zeit eines verfließenden Zeitraums (es hätte dann auch eher 'Hälften des Lebens' heißen müssen), sondern die Positionierung in der Mitte zwischen zwei Lebensabschnitten.
 
                        Hälfte des Lebens
                       
                        Mit gelben Birnen hänget
                        Und voll mit wilden Rosen
                        Das Land in den See,
                        Ihr holden Schwäne,
                        Und trunken von Küssen
                        Tunkt ihr das Haupt
                        Ins heilignüchterne Wasser.
 
                        Weh mir, wo nehm ich, wenn
                        Es Winter ist, die Blumen, und wo
                        Den Sonnenschein,
                        Und Schatten der Erde?
                        Die Mauern stehn
                        Sprachlos und kalt, im Winde
                        Klirren die Fahnen.   
 
In dem reimlosen Gedicht geht jeder einzelne Vers in die folgende Zeile über. So ergibt sich ein durchgehendes, ohne Satzzeichen unterbrochenes Enjambement. Dabei ist mit den gleichen verstechnischen Mitteln in beiden Strophen ein diametral verschiedener Ausdruck erzeugt. In der ersten Strophe wird das harmonische Gleiten der sieben Verse durch eine wunderbar klingende Vokalanordnung der betonten Silben in den jambischen Versen eins, zwei und vier gestützt: e - i - ä / o - i - o / o - ä. Die dritte Zeile bildet den Vorklang der daktylischen Verse fünf bis sieben.
            Die zweite Strophe zerfällt mit dem Fragezeichen nach dem vierten Vers in zwei ungleich lange Teile (4:3),  im Gegensatz zur Symmetrie der ersten Strophe (3:1:3). Sie ist durch unüberhörbare Zerrissenheit charakterisiert. Die Enjambements gehen nicht harmonisch ineinander über, sondern stehen wie zerstörerisch unterbrochen gegeneinander: Hilf- und ziellos erscheinen das „wenn“ und das „wo“. Hier wird die Zerrissenheit durch den traditionell als kakophon empfundenen „w“-Anlaut unterstrichen; er begegnet allein in den beiden ersten Zeilen nicht weniger als fünfmal. Dabei wird eine mögliche sechste Platzierung, wie der stabreimende Richard Wagner sie sich gewiss nicht hätte entgehen lassen (wenn es Winter 'wird' statt „ist“), klug vermieden. Der Vokalismus zeigt keinerlei Harmonie: In den drei abschließenden Zeilen lauten die betonten Vokale, als wären sie disharmonisch in klanglichem Streit: au - e - a – a - i / i – a. Im gänzlichen Gegensatz zur volltönenden ersten Strophe (die bezeichnenderweise bis auf eine Ausnahme den flachen Laut „e“ vermeidet) klingen hier die vielen „e“ und „i“ blechern und ohne Tiefe: „Weh mir, wo nehm ich, wenn es Winter ist.“ Klanglich und in der Aussage ist die erschütternde Zeile aus einem Vierzeiler der späten Zeit vergleichbar: „ich bin nichts mehr, ich lebe nicht mehr gerne.“  Der abschließende Vers über die kreischenden rostigen Wetterfahnen im eisern-stürmischen Winter klingt ähnlich: „im Winde klirren die Fahnen.“ Zuvor wurden die Mauern tautologisch als „sprachlos“ berufen; ihre schützende und wärmende Funktion ist dahin. Und nicht nur „Sonnenschein“ sondern auch der „Schatten der Erde“, das Zusammenspiel von Himmel und Erde, werden vergeblich gesucht.
            Was die inhaltliche Aussage der beiden Strophen ansonsten betrifft, so ist in der ersten Strophe eine durchgängige Figur erkennbar: Alles neigt sich im Liebesbezug einander zu. Die von Herbstfrüchten schweren Bäume beugen sich zu den Sommerrosen hinunter, kultivierte und 'wilde' Natur sind im Einklang. Ähnlich „hängt“ das Ufer in den See. Genau in der Mitte werden die  (vielleicht in Anspielung auf den Name Hölderlin „holden“) Schwäne angeredet - doch wohl vom nicht genannten Lyrischen Ich, das aber in der ersten Strophe nicht separiert, sondern völlig in das Naturbild integriert erscheint. Die Schwäne setzen die harmonische Abwärtsneigung fort und vollenden sie: Ihr gebogener Hals verbindet die Elemente. Dabei klingt unausgesprochen an, daß die Schwäne als Wappentiere des Apoll auch die Kunst repräsentieren und daß sie im Schwanengesang vor ihrem Scheiden eine überirdische Musik hören lassen. Sie gleichen das heilige (das rauschhaft Dionysische) mit dem nüchternen (dem geordnet Apollinischen) Element in der Aura allumfassender Liebe aus, die in der Fülle von Küssen angedeutet ist. Ähnlich deutet schon Clemens Brentano, einer der weniger frühen Hölderlin-Verehrer, das Motiv. In seinem Brief an Rahel Levin vom 25. Juni 1813 entwirft er seine Grabinschrift:
 
                        Aber es tauchet der Schwan ins heilignüchterne Wasser
                        Trunken das Haupt und singt sterbend dem Sternbild den Gruß.
 
Daß in dem oxymorischen Bild von der heiligen Nüchternheit auch eine alte theologische Interpretation mitschwingt, wird man dem ehemaligen  Theologiestudenten des Tübinger Stifts ohne weiteres zuschreiben können:           
Schon in der Antike war die sobria ebrietas (μέθη νηφάλιος) ein Topos, der die Verbindung rauschhafter Trunkenheit mit erkenntnishafter Nüchternheit als Ideal in einer mystischen Einheit sah. In der religiösen Überlieferung wurde dieses Oxymoron seit Ambrosius zur Zeit der Gregorianik (4. Jahrhundert) bis hin zu den Mystikern des Spätmittelalters diskutiert: Entgegengesetztes soll als Einheit realisiert werden. Ein spätantiker Hymnus, der schon früh ins Althochdeutsche übersetzt wurde, beruft die heilige Nüchternheit: „Laeti bibamus sobrie ebrietatem spiritus.“ Für die weite Verbreitung dieser Idee mag als Beispiel das Lied „Du Glanz aus Gottes Herrlichkeit“ (Genf; 1543) stehen, in dessen dritter Strophe Christus angeredet wird, er möge den Heiligen Geist senden, „daß er im Überschwang uns weise, wie man dich heilig-nüchtern preist.“ Die sich über Jahrhunderte erstreckenden theologischen Bemühungen um den Topos sind jüngst auf über 2500 Seiten in nicht weniger als fünf Bänden zusammengefaßt (Philokalie der Väter der heiligen Nüchternheit; 2016).
Eines der schönsten, vollendetsten und tiefsinnigsten Gedichte deutscher Sprache wurde nach dem bald vergessenen Erstdruck  nicht in die erste Ausgabe gesammelter Gedichte Hölderlins im Jahr 1826 aufgenommen; in der vollständigeren Sammlung von 1846 erhielt es seinen Platz (allerdings mit dem bösen Druckfehler im Gedichteingang, wo man 'Blumen' statt „Birnen“ liest). Erst durch den Kreis um Stefan George fand das Gedicht seit 1900 die ihm gebührende Beachtung. Heute zählt es unbezweifelt zu den meistinterpretierten Kunstwerken überhaupt und nimmt an Popularität mit Recht noch immer zu.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2023