Prüde war man in Frankreich nicht

Edmond und Jules de Goncourt – „Blitzlichter - Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt“

von Johannes Vesper

Prüde war man in Frankreich nicht
 
Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt
 
Den beiden Brüdern de Goncourt hat Alain Claude Sulzer seinen Roman „Doppelleben“ gewidmet. Grundlage des Romans sind die ihre vieltausendseitigen Tagebücher, von denen es aber aktuell keine Ausgabe zu kaufen gibt. So wurde die 1989 von Anita Albus für die Andere Bibliothek Hans Magnus Enzensbergers bei Galiani jetzt unverändert nachgedruckt. Die Brüder Jules de Goncourt (Jules 1830-1870) und Edmond (1822-1896) verfaßten ab dem 02.12.1851 ihr gemeinsames Tagebuch, welches Edmond nach dem Tod des Bruders alleine fortgeführt hat. Am ersten Tage des Tagesbuchs kam durch einen Staatsstreich Napoleon III. an die Staatsspitze, dessen Huren ihn überall hin küssen mußten, jedoch nicht ins Gesicht!
 
Die Brüder spießten sprachlich alle auf, mit denen sie zusammen kamen, beobachteten psychologisch subtil, genau und beschrieben gemeinsam alles, was ihnen zu Ohren oder vor Gesicht kam: die feine Gesellschaft im Paris der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die „schöne, häßliche Welt “ mit Männern, die am ehesten „schrumpeligen, leicht schimmeligen Affen“ entsprachen, und häßlichen Weibsbildern, dirnenhaften Flittchen der großen Welt. Texte über 79 ausgewählte Personen von Adolphe-Joseph-Louis Alizar und Charles Baudelaire bis hin zu Emile Zola sowie über die Gesellschaft der Fünf (Flaubert, Turgenjew, Zola, Daudet und Goncourt) hat Anita Albus dem Leser präsentiert, schlaglichtartige kurze Episoden und Beobachtungen, „Blitzlichter“, deren Polemik und derbe Geschmacklosigkeiten wirklich überraschen. Die Brüder wollten die „ungeschminkte Wahrheit“. Sie lebten ihr gesamtes Leben unter einem Dach, sammelten Kunst von Watteau, Liotard, Boucher u.a., Porzellan aus Meißen und Sévres, viel aus Fernost: japanische Bildrosen Seidentücher, Bronzen, ostasiatische Keramik und lebten das Leben von Künstlern, fühlten sich als solche, pflegten der Langeweile, dem Spleen, ihre Nervosität und Melancholie, achteten nur eigene Gesetze. Sie hielten nichts von Kapitalismus, Fortschritt, Sozialismus oder gar von Demokratie und lebten vom beträchtlichen Vermögen ihrer Mutter, welches sie nach deren Tod 1849 geerbt hatten.
 
Sexualität und Pornografie scheint zu ihrer Zeit in Paris das wichtigste und einzige Thema der Intellektuellen und bürgerlichen Szene, nicht der Unterwelt gewesen zu sein. Der von de Sade besessene Flaubert genießt jedenfalls auf Korsika von einer grade eroberten prachtvollen Frau im Alter von etwa 35 Jahren gelutscht zu werden und mit ihr dann „himmlisch zu vögeln“. Das ist zum Trüffelkacken!
Die Brüder begegneten „häßlichen Schnepfen in den Wechseljahren“, tranken Champagner mit Strohhalmen und erzählten von Bakunin, der damals vom baldigen Zerfall Rußlands überzeugt war. Sie verglichen die Möse der Kurtisane Marquise PaÏva mit „einem roten Diwan, der vom Arsch eines Paschas plattgedrückt wurde“. Bei dem Pascha handelte es sich um den Grafen Henckel von Donnersmarck, ein „stummer, häßlicher und äffischer deutscher Mensch aus Borussien, der mit seinem Mittelscheitel über dem Schädel und dem blöden Lächeln seiner Millionen (aus sibirischen Erzbergwerken!) die Partys beherrschte. George Sand galt ganz entschieden als geniale Null, ihr Geschwafel als schiere Nichtigkeit. Immerhin wurden ihre kleinen wunderbar zarten Hände beschrieben. Rimbaud, der Geliebte von Verlaine und „Dämon der Perversität“ fickte seine Geliebten die „ganze Nacht in den Arsch “, sodaß Stuhlinkontinenz befürchtet wurde. Köstlich auch, wie der Religionswissenschaftler und Schriftsteller Ernest Renan als Kalbskopf mit Hitzblattern, mit den Schwielen eines Affenarsches, fettleibig, mit einem Kopf zwischen Schwein und Elefant, kleinen Äugelein, riesiger Hängenase beschrieben wurde, dem eine kleine säuerliche und falsche Stimme entweicht. Prüde waren die Pariser damals nicht.
 
Voll derber Geschmacklosigkeiten, menschlicher Niedertracht, brillanter Unanständigkeit und souveräner Pornographie wird neben allen diesen Episoden auch die moderne Tristesse angesprochen, bedingt durch die Abwesenheit der Freude, aus der Luther eine Tugend gemacht hat. Vielleicht ist dafür die „Komplexität des modernen Denkens“ verantwortlich, das Fehlen jeder verläßlichen Geistesrichtung bei grenzenloser Freiheit. Wer weiß! Der damalige „soziale Wohnungsbau“, Barackenlager der Elendesten der Elenden, in denen die Ratten lustig herumsprangen und schlafende Kinder bissen, wurde vom Baron Rothschild vermietet. Am 21. Juli des Jahres 1889 wurde Edmond de Goncourt in Paris durch einen Verkehrsstau, „ein dichtes Gedränge und Geschiebe aus Wagen und Leuten“ aufgehalten. Haben sich die Zeiten geändert?
Das Lesen der „Blitzlichter“ ist kurzweilig, vor allem wegen ihrer lebendigen, auch autoaggressiven, selbst in der Übersetzung vergnüglichen Boshaftigkeit. Edmond de Goncourt bezeichnet sich zuletzt selbst als zeitweiliges Schwein, mit Anfällen von Sauereien, dem die „Gereiztheit des vom Spermientierchen gebissenen Fleisches anhaftet“, womit er wohl recht hat. Ihm verdankt die Kulturnation Frankreich die Stiftung des Prix Goncourt (1903 zum ersten Mal vergeben) des wichtigsten französischen Literaturpreises. 
 
Edmond und Jules de Goncourt – „Blitzlichter - Aus den Tagebüchern der Brüder Goncourt
Herausgegeben, übersetzt und benachwortet von Anita Albus
©2023 Galiani Verlag, 350 Seiten, gebunden - ISBN 978-3-86971-281-9
25,- € / e-book 19,99 €
Seit gestern im Buchhandel erhältlich.
 
Weitere Informationen:  www.galiani.de