Entzweiung und Versöhnung

von Ernst Peter Fischer

Ernst Peter Fischer
Entzweiung und Versöhnung
 
Von Ernst Peter Fischer
 
Der Prozeß der Entzweiung beginnt mit einer urtümlichen Einheit, die als nicht haltbar gilt. Georg Wilhelm Hegel (1770-1831) sieht Entzweiung als Ausgangspunkt (Urgrund) des Nachdenkens, und er betrachtet konkret die Entzweiung von Ich und Wir, Subjekt und Objekt und Individuum und Staat. Hegel spricht ausdrücklich von einem „in sich entzweiten Bewußtsein“, das ihm „unglücklich“ scheint, weshalb es gilt, die Entzweiung zu überwinden, was die Aufgabe mit sich bringt, die auftretenden Gegensätze dialektisch zu versöhnen („Phänomenologie des Geistes“ von 1807). Hegel meint, bei diesem Prozeß könne es dem Geist gelingen, vom einfachen Bewußtsein über das Selbstbewußtsein zu einem Weltgeist aufzusteigen, wozu wir viel Glück wünschen.
 
       Es leuchtet ein, wenn man liest, daß sich ein Mensch seiner selbst erst durch einen anderen – durch den Anderen als Gegenüber – bewußt wird, was bedeutet, daß er sein Gegenüber anerkennen muß. So konstatiert es Hegels dialektische Philosophie, aus der sich der historische Materialismus entwickelt hat, der mit dem Namen von Karl Marx verbunden ist und an der sich auch der Existentialismus abarbeitet, der oft mit Jean Paul Sartre zugeschrieben wird ist. Sartre ist an einer Versöhnung der Entzweiung gelegen, was hier nicht verfolgt wird.
 
       Hier soll die Aufmerksamkeit weniger dem philosophischen Denken und mehr dem wissenschaftlichen Erkennen gelten, wobei die Fortschritte in den Blick genommen werden sollen, die in der Zeit nach Hegel kamen und vor allem im frühen 20. Jahrhundert zu einem neuen Weltbild führten. Während bis in das 19. Jahrhundert hinein physikalische Gesetze aufgestellt wurden, in denen kein Subjekt auftauchte, was den Eindruck der Objektivität mit sich brachte, änderte sich die Lage spätestens mit dem Auftreten von Albert Einstein, der 1905 klar machen konnte, daß Licht sowohl als Welle als auch als Teilchen zu agieren in der Lage ist, was hier als dessen Entzweiung verstanden wird. Die Physiker sprachen von der Dualität des Lichtes – sie zeigte sich später auch bei den Elektronen, die sich trotz ihrer nachgewiesenen Masse wie Wellen bewegten, weshalb man mit ihnen Mikroskope bauen kann –, was durch Niels Bohr die philosophische Weihe der „Komplementarität“ bekam. In der Naturwissenschaft werden notwendigerweise komplementäre Beschreibungen gebraucht, die sich zwar widersprechen, aber zusammengehören. Komplementäre Darstellungen wie Welle und Teilchen sind prinzipiell vollkommen gleichberechtigt. Jede ist richtig, keine ist wahr. Keine genügt für sich allein, beide sind notwendig. Nur die Gesamtheit aller komplementären Beschreibungen kann die ungeteilte materielle Realität repräsentieren. Komplementarität ist philosophisch gesehen eine qualitative Dialektik, die Polaritäten (These und Antithese) aushält und versöhnt und nicht behauptet, es gäbe ein Drittes, das als neue Einheit dienen könne (Synthese). Eine Einheit ist als (Zweiheit) Dualität gegeben. Die gewünschte Einheit kann im Dialog entstehen.
 
       Wie sich im Laufe des 20. Jahrhunderts herausstellte, als die Physik der Atome namens Quantenmechanik entstand, merkten die Wissenschaftler bei ihren Bemühungen, daß sich das jeweils anvisierte „Ding-an-sich“ der Erkenntnis entzog, was Immanuel Kant allgemein formuliert hatte, und die Forscher lernten auf dem Weg zum Atom zu unterscheiden zwischen der Wirklichkeit (Welt) und dem Wissen davon. Physik handelt nicht von den Dingen, sondern von den Kenntnissen, die Menschen von ihnen haben, und diese Trennung von Welt und Wissen kann auch als Entzweiung verstanden werden. Die Geschichte der Quantenmechanik kann umfassender als Auftreten von weiteren Dichotomien erzählt werden, wenn man bedenkt, daß neben Einsteins ursprünglicher Entzweiung von Welle und Teilchen beim Licht und Max Plancks bereits 1900 erfolgter Abspaltung eines diskreten Quantums aus einer bis dahin mit kontinuierlichen Größen operierenden Wissenschaft in den 1920er Jahren erst zwei mathematisch verschiedene, aber äquivalente Theorien auftauchten, die als Matrix- und Wellenmechanik in den Lehrbüchern zu finden sind, bevor danach die beiden Deutungen der atomaren Realität entwickelt wurden, die als Unbestimmtheit und Komplementarität auf unterschiedliche Weise dasselbe sagen, daß man zum Beispiel ein Elektron nicht zugleich als ortsgebundenes Teilchen und sich bewegende Welle erfassen und bestimmen kann.
 
       Wenn man nach einer übergeordneten Zweiheit oder Entzweiung sucht oder fragt, kann man auf die Dualität von Natur und Geist verweisen, wobei der romantische Philosoph Friedrich Schelling die Natur als sichtbaren Geist und den Geist als unsichtbare Natur identifizierte. Für ihn benötigen Wissenschaftler künstlerische Sensibilität, um die Natur – die Welt – zu verstehen, wobei es im Denken der Romantik ein Kunstwerk vermochte, etwas Entzweites zu vereinen und zu versöhnen.
 
       Oft werden „Die Welt und Ich, wir beide“ als entzweit angesehen, wobei die westliche Wissenschaft versucht hat, eine Welt ohne Ich zu verstehen, während östliche Mystiker daran arbeiten, ein Ich ohne Welt zu werden. Dabei kann man neben dem Physischen auch Metaphysisches erwarten, und tatsächlich hat die Physik zeigen können, daß es das Phänomen der Verschränkung gibt, bei dem die Messung eines Objektes die Eigenschaften eines zweiten instantan mit feststellt, auch wenn diese weit entfernt ist und es keine Wechselwirkung gibt. Das Phänomen der Verschränkung zeigt, daß die Wirklichkeit als ein Ganzes existiert, dessen Teile von Menschen stammen, die über ihr Wissen von der Welt reden wollen und dafür einzelne Begriffe brauchen. So erwecken die Teile den Eindruck, für sich zu existieren. Sie sind aber nur der Teil des Ganzen, das Menschen entzweien müssen, wenn sie die Welt im Dialog verstehen und vorstellen wollen. Was auch sonst?
 
 
 
© 2023 Ernst Peter Fischer