Ein immer noch wenig beachtetes lyrisches Genie

Johann Christian Günther starb am 15. März 1723

von Heinz Rölleke

Johann Christian Günther
Ein immer noch wenig beachtetes lyrisches Genie
 
Johann Christian Günther starb am 15. März 1723
 
Von Heinz Rölleke
 
 
Er war einer der bedeutendsten der jung verstorbenen deutschen Dichter, die man ihrem Sterbealter nach in einer Zehnergruppe nennen kann:
 
                        Büchner 23                 Borchert 26
                        Wackenroder 24         Günther 27
                        Hauff 24                      Hölty 27
                        Heym 24                     Trakl 27
                        Waiblinger 25              Novalis 28
 
Man könnte in Umkehrung eines berühmten Seufzers, den der junge Schiller seinem  Don Carlos in den Mund legte (und wohl auch ein wenig auf sich selbst bezog), von diesen früh Verstorbenen sagen: „Schon dreiundzwanzig Jahre, und schon viel [statt nichts] für die Unsterblichkeit getan.“ Schaut man die Liste unter diesem Gesichtspunkt an, so waren wenige junge Dichter schon zu Lebzeiten berühmt (Hauff, Hölty, Novalis), die andern ernteten erst viel später mehr oder weniger Nachruhm durch sie bewundernde Dichter, vereinzelt bei Germanisten und sporadisch beim Lesepublikum. Hauff, Hölty und Novalis hatten in einem Freundeskreis, und bald schon darüber hinaus, Förderer und Bewunderer.
 
       Johann Christian Günther wurde nach wenig glücklichem Lebenslauf und frühem Tod schon bald weitgehend vergessen, zumal seine zahl- und umfangreichen Gedichte den Abschluß der barocken Poesie bilden, die alsbald fälschlich in den Ruf kam, sie sei vorgestrig, unmodern und immer weniger verständlich. Daß gerade Günther es war, der genial seiner Zeit voraus, den Übergang zum Rokoko, ja bis hin zum Sturm und Drang markiert hatte, blieb lange unbemerkt. Kein geringerer als Goethe war es dann, der 1812 auf den ihm in gewissen Zügen ähnlichen Dichter (89 Jahre nach dessen Tod) in seiner vielbeachteten Schrift „Dichtung und Wahrheit“ (II.9) aufmerksam machte:
 
     Hier gedenken wir nur Günthers, der ein Poet im vollen Sinne des      
     Worts genannt werden darf. Ein entschiedenes Talent, begabt mit       
     Sinnlichkeit, Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und      
     Vergegenwärtigens, fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch  
     bequem, geistreich, witzig und dabei vielfach unterrichtet […]. Wir    
     bewundern seine große Leichtigkeit, in Gelegenheitsgedichten alle     
     Zustände durchs Gefühl zu erhöhen und mit passenden Gesinnungen,            
     Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen zu schmücken.
     Das Rohe und Wilde daran gehört seiner Zeit, seiner Lebensweise      
     und besonders seinem Charakter, oder, wenn man will, seiner  
     Charakterlosigkeit. Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann      
     ihm sein Leben wie sein Dichten.
 
Goethe hat selten einen Dichterkollegen so hoch gerühmt, aber die abschließende Verurteilung mit dem Vorwurf der „Charakterlosigkeit“ setzte sich bei der sporadischen Rezeption des Genies sehr schnell und im Grunde bis heute durch. Dabei ließ man außer acht, daß Goethe seine autobiographische Schrift auch als Erklärung seines dichterischen Reichtums (Dichtung) wie seines zuchtvollen Lebens (Wahrheit) aufgefaßt angesehen wissen wollte. Das Genie des Barockdichters sah er als mit sich verwandt und ebenbürtig an, die Lebensführung Günthers als katastrophal, und an dieses vernichtende Urteil hielt man sich. Dafür nur zwei Beispiele an prominenter Stelle.
       1893 liest man, knapp hundert Jahre nach Goethes Urteil im Brockhaus-Lexikon, das seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis 2014 als kanonisch galt:
 
     Er ergab sich jedoch bald einem wüsten Leben, geriet in Schulden      
     […]. Die letzten Jahre seines Lebens irrte G. heimatlos umher  
     [...].G.s Lieder und Oden sind nicht frei von dem Bombast und           
     steifen Pomp, von dem Frechen und Lüsternen. [...] an häßlichen        
     Zynismen hat er mehr geleistet, als durch die Zeit entschuldigt wird.
 
Immerhin wird ihm attestiert:
 
     eine nicht selten volkstümliche Kraft der Sprache, eine
     lebendige Vorstellungskraft, vor allem eine         ursprüngliche             
     leidenschaftliche Gefühlswahrheit, die alle inneren Erlebnisse  
     getreulich dem Verse anvertraute, erhebt ihn hoch über seine    
     Zeitgenossen: seine Leonorenlieder finden erst bei Goethe wieder       
     ihresgleichen.
 
Meyers noch bis heute, auch wegen seiner ausgezeichneten Künstler-Artikel hoch geschätztes Konversations-Lexikon (1857 bis 1986) schlägt 1905 noch heftiger in ähnliche Kerben. Den Anfang allen Übels sah man im Beginn seiner Studien in Wittenberg und Leipzig: „Er wurde hier in die wüste Rohheit des damaligen Studentenlebens hineingerissen.“ Nach einigen großartigen poetischen Erfolgen wurde er
 
     dem König von Polen und Kurfürsten von Sachsen als Hofdichter      
     vorgeschlagen, verscherzte sein Lebensglück, indem er bei der
     ersten Audienz völlig betrunken erschien. [Er lebte dann] immer          
     tiefer in Ausschweifungen versinkend. [In seinen Dichtungen]
     findet sich nicht selten das Gemeine, Laszive.
 
Man darf die für Rezeptionsgeschichten ganz entscheidende Rolle dieser mächtigen Handbücher nicht unterschätzen: Professoren und Studienräte, Studenten und Schüler schöpften hier ihr Wissen, und auch wohlhabende Bürger besaßen eines der beiden voluminösen Werke.
Über Günther erfuhren vor allem Schüler Jahrzehnte lang überwiegend Negatives, und man hört deutlich die etwas spießbürgerliche Warnung vor einem Lebenslauf wie dem des unkonventionellen Dichters heraus.      
       Günthers Lebenslauf ist hier nur kurz unter Benutzung des informativen Wikipedia-Artikels skizziert. Er wurde als Sohn eines Arztes am 8. April 1695 in Striegau geboren. Schon als Schüler beeindruckte er durch hervorragende Gedichte; als 18jähriger begann der Reigen seiner stets unglücklich endenden Verlobungen. Seine „Leonore“ wurde durch seine Gedichte bis heute eine Berühmtheit. Auf Wunsch des Vaters begann er 1715 ein Medizinstudium in Wittenberg. Als der Vater erfuhr, daß der Sohn seinen Lebensunterhalt durch Dichtungen verdienen wolle, strich er zornig und für immer unversöhnlich seine finanziellen Zuwendungen. So geriet Günther schon 1717 ins Schuldgefängnis. Er wechselte an die Universität Leipzig; sein Versuch, sich schon früh als Arzt in Schlesien zu etablieren, mißlang ebenso gänzlich wie seine lebenslängliche Bemühung, sich mit dem Vater zu versöhnen. 1723 mietete er sich krank und verarmt bei einem Gönner in Jena ein und starb dort Anfang des Jahres.
       Die „Encyklopædia Britannica“ nennt ihn „one of the most important German lyric poets“ in der Zeit vor Goethe.
            Für seine Stellung als Dichter zwischen Barock, Rokoko und Aufklärung sei hier ein Blick nur auf eines seiner zahlreichen Gedichte geworfen, in denen sich zeitlose Themen wie Liebesfreuden und -leiden („Auf die ihm so beliebte Abwechslung beim Lieben“) sowie ergreifende Bekenntnisse wechselnder Befindlichkeiten („Die Eitelkeit des menschlichen Lebens“), aber auch zahlreiche ebenso tiefsinnige wie neue heilsgeschichtliche Deutungen („Endlich steht ein Heiland auf“) finden. Jede Lektüre verspricht mannigfache Belehrung, Bereicherung und Erbauung. .
 
                        Auf eine Schnupftabaksdose
 
                        Ich brauche diesen Staub mit Lust und Überfluß,
                        Damit ich Asch und Erde     
                        Fein oft erinnert werde:
                        Mensch, lerne, was du wirst und wann man leben muß.
 
Schon das erste Wort läßt erahnen, daß das Lyrische Ich hier eine seinerzeit neue Art der Erlebnisdichtung ankündigt (die Goethe sehr viel später als „Bruchstück einer großen Konfession“ bezeichnete); es ist von Selbsterlebtem die Rede. Die Tabaksdose, die seit der Barockzeit gern als Liebespfand fungierte, wird im Überfluß und mit Lust häufig gebraucht – ganz im Sinn des Horazischen „Carpe diem“: Nutze jeden Tag, genieße jede Stunde) angesichts der Unbeständigkeit und Kürze deines Lebens. Dieses Motto wurde nach den Verheerungen des 30-jährigen Krieges für viele zur Lebensmaxime. Die zweite Hälfte des Schlußverses macht aus der Empfehlung, sein Leben mit Lust und Genuß zu führen, geradezu ein Muß. Umrahmt von den zum Genießen auffordernden Zeilen bleibt in dem kleinen Gedicht noch Raum für die andere Maxime der Barockzeit: „Memento mori“, bedenke jederzeit die Kürze deines Lebens, eine Mahnung, die sich schließlich in der asketischen Verachtung alles irdisch Vergänglichen (Vanitas) gemäß der seit dem Mittelalter geläufigen Formel „Contemptus mundi“ verdichtet (Verachtung alles Weltlichen im Hinblick auf das Ewige). In der Rezeption der Hinblick der ständigen kirchliche Mahnung „Memento homo, quia pulvis es et in pulversam reverteris“ (Gedenke, Mensch, daß du Staub bist und daß du zum Staub zurückkehren wirst). Der Genuß des staubförmigen Tabaks mahnt unwillkürlich an diese ständig präsenten Erinnerungen an den Tod, und die Mahnung „Mensch, lerne, was du wirst“, nämlich Staub, „Asch und Erde“ nimmt diese Weisheit auf und gibt sie an den Leser weiter. Ein poetisches Meisterwerk auf engstem Raum!
            Goethes treffendes Urteil über den ausgezeichneten Dichterkollegen hat auch nach über zweihundert Jahren Bestand: Günther ist „ein Poet im vollen Sinn des Wortes“ - die Lektüre seiner meisterhaften Gedichte verspricht auch heute noch reichen Gewinn.
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2023
 
 
Johann Christian Günther (* 8. April 1695 in Striegau, Fürstentum Schweidnitz; † 15. März 1723 in Jena)