Der Wein ist gut!

„Sie werden platziert“ - Eine Erlebnistour durch Gast- und Vergnügungsstätten der DDR

von Frank Becker

Der Wein ist gut!
 
Im Ballast der Republik und anderswo
 
Die Erinnerung ist das einzige Paradies,
aus dem wir nicht vertrieben werden können.
Jean Paul
 
Die Erinnerung an vergangene Zeiten festzuhalten ist von enormer Wichtigkeit. Versäumt man es, ist abgesehen von den historisch-politischen Dimensionen eine kulturgeschichtliche Epoche eines Tages unwiederbringlich vergessen. Das betrifft mit Blick auf die Deutsche Geschichte nach 1945 ganz besonders das Leben und den Alltag in der nach einer relativ kurzen Existenz von 41 Jahren von der Bildfläche verschwundenen DDR. Als der kleine Staat sozialistischer Prägung von seiner eigenen Bevölkerung aufgelöst wurde und mit dem westlichen Teilstaat Bundesrepublik seine Einheit zu einem wiederhergestellten Deutschland einging, verschwanden im Handumdrehen auch viele Erinnerungen im Orkus des Vergessens. Dem wirkt eine Buchreihe des Verlags Bild und Heimat entgegen, der seit einigen Jahren Erinnerungsbücher mit Beiträgen von Zeitzeugen für diejenigen herausgibt, die ihr Leben in der DDR gelebt haben – und für diejenigen, die eben nicht dabei waren, aber gerne erfahren möchten, wie es „damals“ war. Wer nach 1945 auf dem Staatsgebiet der späteren DDR geboren worden ist und bis 1989 dort seine Sozialisation erfuhr, wird sich und sein Leben in Büchern wie „Republik der Werktätigen“, „Sport frei!“, Mit dem Dederon-Beutel in den Konsum“, „Unser täglich Brot – Alltag in der DDR“, „Verschwundene Dinge der DDR“, „Wie der Osten Urlaub machte“, „Wie der Osten zur Schule ging“ oder „Bei der Fahne - Dienen in der NVA“ wiederfinden. Alle anderen bekommen mit solchen Büchern eine unterhaltsame Lehrstunde über den Alltag jener Zeit. So auch mit dem jüngsten Band zum Thema: „Sie werden platziert!“, der eine Erlebnistour durch Gast- und Vergnügungsstätten der DDR verspricht.
 
„In der DDR wurde Geselligkeit bei gutem Essen und Trinken mit Freunden, Kollegen und Verwandten großgeschrieben. Wer dafür ausgehen wollte, mußte mitunter viel Geduld mitbringen, um in einer der 25.700 Speisegaststätten der Republik Plätze zugewiesen zu bekommen. (…) Dieser Band erzählt Geschichten von Lust und Leid beim Vergnügen in der DDR“ schreibt der Verlag dazu. Selbst erlebt habe ich das bei einem Besuch im Südosten der DDR, als meine Gastgeber mich zum Abendessen im besten Restaurant der Stadt einluden. Beim Betreten des höchstens zur Hälfte besetzten Lokals wurden wir am Eingang mit den klassischen Worten zum Warten aufgefordert: „Sie werden platziert…“, bis man uns einen Tisch zuwies. Und meine Schwester erlebte im Ostberliner „Palast der Republik“ bei einer Einladung, daß der Kellner am Tisch die Weinflasche entkorkte, daran schnupperte und entschied „Der Wein ist gut!“. Zack.
Es geht in diesem aus den Erinnerungen der Autoren gespeisten Buch neben Restaurants, Imbiß-Lokalen und Kneipen um vieles andere, was den Bürgern ihre Freizeit mal mehr, mal weniger versüßte – Theater und Konzerte, Ausstellungen und Discos, Tanzabende und Dorfclub, Folklore und Fernsehen.
 
Bettina Klemm erzählt in „Keine Witzbeschwerden“ von der Ventilfunktion des Dresdner Kabaretts „Herkuleskeule“, Klaus Behling untersucht, was die MITROPA in Zügen, auf Bahnhöfen und Fährschiffen für die gesellschaftliche Speisung tat, Henner Kotte geht der staatlich reglementierten Kinokultur im Osten nach und erinnert mit ein wenig Wehmut in „Phantomschmerz in der Hauptstadtmitte“ an den dahingegangenen Palast der Republik. Wehmut spielt in solchen Erinnerungen immer wieder eine Rolle, denn zu erleben, daß alles verschwindet, was einen einmal geprägt hat, ist durchaus schmerzhaft. Verschwunden sind auch Kultlokale wie die „Linie 6“ in Dresden, der „Alextreff“ in Berlin, der Künstlerclub „Die Möwe“, die Leipziger „Moritzbastei“ oder die Milchbar im (s.o.) Palast der Republik.
Aber das ist genauso auch in der BRD geschehen, ich denke nur an das Verschwinden der romantischen Cafés meiner Jugend, das „Café Schulte“ und das „Café Fahlenbock“. Sie mußten rentableren Unternehme weichen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielte der Alkohol im gesellschaftlichen Leben der DDR. Klaus Behling erinnert sich farbenreich an Braunen und Weißen, an Kumpeltod, Rosenthaler Kadarka, Nordhäuser, „Pfeffi“ und „Blauer Würger“. Versuche der Staatsorgane, dem exzessiven Alkoholmißbrauch entgegenzuwirken endeten spätestens, als man einsah, daß ein generelles Alkoholverbot nicht durchzusetzen war und auch halbherzige Parolen wie „Trinke nicht wahllos, greife zum Rotwein“ wirkungslos verpufften. Die DDR trank, ob Rentner, ob Jugendweihling, ob Volksarmist oder Bürger - sei es, um sich den Sozialismus schön zu trinken oder den Kummer darüber zu ertränken.
 
Ein weiteres ebenso aufschlußreiches wie unterhaltsames Buch, das reichhaltig mit zeitgenössischen Fotos ausgestattet zum Kennenlernen bzw. zum Erinnern an einen verschwundenen Staat einlädt.
 
„Sie werden platziert“ - Eine Erlebnistour durch Gast- und Vergnügungsstätten der DDR
© 2022 Bild und Heimat, 159 Seiten, gebunden, Fadenheftung, mit vielen zeitgenössischen Fotos - ISBN-13: 9783959583312
Mit Beiträgen von Klaus Behling, Frank-Rainer Schurich, Wolfgang Schüler, Bettina Klemm, Wolfgang Martin, Uli Jeschke, Jürgen Karney, Frank Nussbücker, Henner Kotte, Anke Nussbücker
14,99 €
 
Weitere Informationen:  www.bild-und-heimat.de