Blagen und Nachbarn - Das Leben im Revier

Zwei Kalender und ein Buch aus dem asso-Verlag

von Frank Becker

assoverlag - Fotoarchiv Stiftung Ruhr Museum
Blagen und Nachbarn

Das Leben im Revier in den
Fünfziger Jahren


Ein Bildband und zwei Kalender aus dem assoverlag



Fotos als Zeitzeugen


Da sind sie wieder - die herrlichen Szenen einer so nahen und doch so weit entfernten Zeit! Der assoverlag hat, wie schon im vergangenen Jahr, zwei kostbare Kalender aus den Fotoarchiven der Stiftung Ruhr Museum zusammengestellt, die eine Welt zeigen, welche der Jugend heute kaum noch zu vermitteln wäre, hätte man nicht solche Bilddokumente und die (etwas) ältere Generation als Zeitzeugen. Es ist weniger verblüffend als erschreckend, welche Kluft die technische "Aufrüstung" zwischen jener Zeit und heute - es sind nur 50 Jahre vergangen! - hat aufreißen können. Das Bild unserer Gesellschaft hat sich vor allem durch das Drängen wirtschaftlicher Interessen von Grund auf verändert. Kinderspiele, Freizeitgestaltung, Nachbarschaftlichkeit... Vieles ist verschwunden, anderen, schrilleren Vergnügen gewichen. Bescheidenheit ist nicht gefragt, das Miteinander anscheinend auch nicht. Vor allem junge Leute schließen sich ein in eine Welt, zu der andere, zumal Ältere keinen Zugang mehr bekommen. Knopf im Ohr, umgeben von einer undurchdringlichen musikalischen Hülle, den Blick starr auf die Anzeige des Mobiltelefons gerichtet, durchtaumeln sie eine Welt, die ihnen selber fremd bleibt. Die ganz Kleinen scheinen noch nicht vom elektronischen Virus erfaßt, doch auch sie werden sich bald in dessen Sklaverei begeben.

Ruhe der Kindheit

Friedrich Hölderlin hat das 1797 in seinem "Hyperion" beschrieben:

assoverlag - Fotoarchiv Stiftung Ruhr Museum
"Ruhe der Kindheit! himmlische Ruhe! wie oft steh´ ich stille vor dir in liebender Betrachtung, und möchte dich denken! (...) Ja! ein glücklich Wesen ist das Kind, solang es nicht in die Chamäleonsfarbe der Menschen getaucht ist. - Es ist ganz was es ist, und darum ist es so schön. Der Zwang des Gesetzes und des Schicksals betastet es nicht! im Kind ist Freiheit allein. - In ihm ist Frieden! es ist noch mit sich selber nicht zerfallen. Reichtum ist in ihm; es kennt sein Herz, die Dürftigkeit des Lebens nicht. Es ist unsterblich, denn es weiß vom Tode nichts.
Aber das können die Menschen nicht leiden. Das Göttliche muß werden, wie ihrer einer, muß erfahren, daß sie auch da sind, und eh es die Natur aus seinem Paradiese treibt, so schmeicheln und schleppen die Menschen es heraus, auf das Feld des Fluchs, daß es wie sie im Schweiße des Angesichts sich abarbeite.
Aber schön ist auch die Zeit des Erwachens, wenn man nur zur Unzeit uns nicht weckt."

Zechensiedlung und Milchmann

Die Kleinen sind vielleicht deshalb noch unbeschwert, weil sie der Taumel der neuen Zeit noch nicht erreicht hat - die Älteren, weil diesen Anfechtungen sie nicht mehr erreichen. Sie leben in der Gnade der frühen Geburt, um ein Politikerzitat abgewandelt zu benutzen, die sie hat in eine Gesellschaft hineinwachsen lassen, in der Gemeinschaft, Gegenseitigkeit, Zufriedenheit, Genügsamkeit, Sparsamkeit und (auch das werden Junge kaum glauben können) Vollbeschäftigung die Werte waren, an die man sich halten konnte. Dafür war das Ruhrgebiet, das nicht ohne Grund auch der "Kohlenpott" genannt wurde - auch die Zeit der Zechen ist längst vorbei - nicht eben die sauberste der Welten und seine Luft häufig kaum atembar. Das ist heute allemal besser. Die Bilder des Kalenders "Nebenan" legen auch davon deutlich Zeugnis ab. Was Kraftwerke, Stahlkochereinen, Kokereien und Kühltürme an Dreck in die Luft entließen, brachte manche Hausfrau, die Wäsche trocknen, Betten lüften und Fenster putzen mußte, schier zur Verzweiflung. Aber es gab gleichzeitig etwas, das vieles aufwog: die kleine Idylle, die ganz private heile Welt. Das gemeinschaftliche samstägliche Wagenwaschen auf dem Hof (Januar), der Milchwagen, der täglich Flaschenmilch brachte, im Sommer oft gekühlte Buttermilch (März), der Kartoffelhändler, der bimmelnd seine Ware ausrief (September) oder der Kohlenmann, der aus groben Jutesäcken Koks oder Eierkohlen vor die Tür schüttete - reinholen mußte man sie selber (November), das Schwätzchen beim Straße kehren (August), beim Wäsche aufhängen (April) oder im Gemüsegarten der Selbstversorger hinter der

assoverlag - Fotoarchiv Stiftung Ruhr Museum
Zechensiedlung (Juli) - da war etwas, das heute fehlt. Vielleicht gibt es ja zwischen Oberhausen und Bochum, Essen und Duisburg noch letzte kleine Enklaven, ich könnte es mir vorstellen.

Die kleinen Freuden

Die kleinen Freuden der Kinder vor 50 Jahren, die für die Kleinen allerdings recht große waren, zeigt einmal mehr "Blagen", zu dem begleitend auch ein großformatiger Bildband erschienen ist. Welches Glück stellte ein alter Autoreifen dar (November) - man konnte unglaublich viel mit ihm anfangen! Der Affe aus dem Wanderzirkus (Juni) war eine Sensation, die Aluminium-Milchkanne, mit der Mutti Bärbelchen und Renate losschickte (Mai) gehörte zum Alltag wie die Fördertürme und Schlote im Hintergrund beinahe alle Bilder (März, August, Oktober etc.). Am Bahndamm spielen (Oktober), auf dem endlich zugefrorenen Teich schlittern (Dezember), das Dach von Vaters Schuppen wie den Mount Everest erklimmen (März), einen Fußball besitzen (Titelbild des Buches) und die Eistüte für´n Groschen teilen (Juli: "...wenn ich von Deinem Eis lecken darf, darfst du `ne Runde mit meinem Ballonroller drehen") - man brauchte nicht viel. Ich gebe es unumwunden zu: ich sehne mich ein wenig zurück zu der Zeit, als die Mark noch zehn Groschen wert war.
Mit den Kalendern aus dem assoverlag kann man zumindest eine Jahresreise mit jeweils zwölf Stationen buchen. Das Buch "Blagen" versammelt die schönsten Bilder der Kalender 2008/2009 und einige mehr. Mit wieviel Hingabe wurden in einer Pfütze Inseln und Brücken gebaut, die ein Holzbrettchenschiff umsegelte - Anton Tripp hat es im Bild festgehalten. Dazu ein Text Rimbauds: " Wenn es ein Wasser in Europa gibt, nach dem ich mich sehne / So ist es die schwarze und kalte Pfütze / An der traurig ein Kind / Im Atem der Dämmerung / Sein Schiffchen zart wie Maienfalter / Treiben läßt."

Eine Empfehlung - und ein Musenkuß.

Blagen (Buch)
ca. 100 Seiten - gedruckt in Duotone - Laminierter Pappband - ISBN 978-3-938834-37-4  ca. € (D) 24,90
Oktober 2008

Blagen (Kalender)
Format 40 x 40 cm - Gedruckt im Duotone - 12 Monatsblätter - Spiralbindung - Motivübersicht auf der Rückseite
ISBN 978-3-938834-31-2 , €( D) 19,90
 
Nebenan (Kalender)
Format 40 x 40 cm - Gedruckt im Duotone - 12 Monatsblätter - Spiralbindung - Motivübersicht auf der Rückseite
ISBN 978-3-938834-32-9, € (D) 19,90
 
Alle Fotos aus dem Fotoarchiv Stiftung Ruhr Museum

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Weitere Informationen unter:  www.assoverlag.de und  www.ruhrlandmuseum.de