Ben van Cauwenbergh gab seinen Einstand am Aalto Essen

"La vie en rose" rührte an

von Peter Bilsing
"La Vie en Rose"
Begeisternder Eröffnungsabend
des neuen Ballettchefs Ben van Cauwenbergh
am Essener Aalto
 

Hintergründe


Manchmal holt auch den Kritiker die Vergangenheit ein. 2006 sprach ich angesichts der modernen Schwanensee-Fassung von Stefan Thoss am Essener Aalto Theater von „simpel gestrickten

Foto: Aalto Theater / Bettina Stöss
Diskogehampel“ und weiter „exegetischen Zuckungen und Fallübungen“ statt stimmungsvoller Choreografie – meine Beurteilung dieses Einzelabends! Im Jahre 2007 holte mich diese Kritik wieder ein, als ich von einer Bürgerinitiative aus Wiesbaden angerufen wurde, die mit einer Liste tausender Unterschriften und diversen Protestveranstaltungen die Weiterbeschäftigung ihres heißgeliebten Ballettchefs Ben van Cauwenbergh realisieren wollte. Die Städtischen Altvorderen und Intendant Beilharz hatten, bevor der beim Theatervolk so beliebte Cauwenbergh nach 15 Jahren unkündbar gewesen wäre (nach den Statuten des Öffentlichen Dienstes), seinen Vertrag nicht mehr verlängert und eben diesen Stefan Thoss zum Nachfolger nominiert. Bei Erkundigungen über den Neuen war eine gigantische Fangemeinde nun ausgerechnet über meine Kritik gestolpert, was eben diese „vox populi“ in ihrer sicheren Annahme bestätigte, daß mit Thoss ein „Zertrümmerer“ des klassischen Balletts an ihr Haus berufen worden war. Ich sollte in einer großen Publikumsdiskussion davon Zeugnis ablegen. Man hatte neben Horst Koegler (dem große Ballett-Kritiker-Papst) und mir sonst keinen gefunden, der vorher je eine Thoss-Choreografie dermaßen verrissen hatte. Natürlich läßt sich kein renommierter Kritiker vor so einen Karren spannen und mittlerweile haben Tausende in Wiesbaden ihre Abo-Kündigungen wieder zurückgenommen, nachdem man festgestellt hatte, daß der Neue doch nicht so „böse“ ist. Damals war noch nichts vom Wechsel eben des Ben van Cauwenberg ans Aalto Theater bekannt. Jetzt stand seine erste Arbeit in Essen auf dem Plan: „La vie en rose“. Zeit am Objekt zu überprüfen, warum dieser Künstler am und im Umfeld des Wiesbadener Staatstheaters 15 Jahre lang so ungeheuer von den Ballettomanen geliebt wurde..
 
Vorweggenommen

Ich nehme es vorweg: für alle, die Edith Piaf (Den Spatz von Paris), Gilbert Becaud (Mr. 100 000 Volt) und den begnadeten Jacques Brel auf ihrer persönlichen Favoritenliste haben, ist dieser charmante musikalische Abend mit dem Untertitel „Soirée francaise“ ein Muß! Es wird bravourös getanzt,

Foto: Aalto Theater / Bettina Stöss
teilweise live gesungen und auch musiziert. Und wenn die Originale vom Band kommen und dazu stimmungsvolle Bilder aus Paris und Umgebung auf riesigen Regenschirmen eingeblendet werden, dann bleibt beim reiferen Publikum kein Auge mehr trocken. Da kann niemand auf dieser Welt das empathisch gesteuerte Mitsummen übel nehmen. Schöner und nostalgischer kann Tanztheater nicht sein. Ein Traum in dieser finsteren Zeit; eine sentimentale Flucht zurück in die 60er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts, ein Schwelgen in den Erinnerungen der ersten schüchternen Liebe, zu den Wolken des ersten Kusses und dem Herzschlag der Sinnlichkeit wahrscheinlich heute allzu sehr verklärter Tage. So war das Publikum dieser Produktion in Entzückung und romantischer Bezauberung bei einfühlsamer Musik und feuchten Augen in den Herzen vereint. Ich habe selten einen so schönen Theaterabend erlebt, der mit 2 Stunden (inkl. Pause) allen viel zu kurz erschien. Danke Ben van Cauwenberg!
 
Ergreifend: Zygmunt Apostol

Doch das alles ist nicht nur eine Hommage an Frankreich, Paris und seine legendären Chansonniers und Chanteusen, sondern es ist auch eine Hommage an das Leben, die Liebe und den Tanz. Die Zeitlosigkeit dieser Themen repräsentiert als genialer Entertainer der 77-jährige Zygmunt Apostol, der in Gestalt des Clochards Jef, teilweise auf dem Akkordeon begleitend, oder tanzend (!) durch den Abend führte. Ein Gesicht in das sich die Jahre eingegraben haben – immer noch ausdrucksstark und doch sensibel neugierig, gelegentlich sogar noch so weltoffen, wie die Augen eines Kindes und doch immer mit der traurigen Sensibilität und Lebenserfahrung eines Charles Chaplin. Ein ganz großer Künstler mit einer gemütsbewegenden Ausstrahlung und weltumgarnend offener Herzlichkeit. Nur ein Blick in das Live-Gesicht dieses „Großen alten Mannes“ des Theaters und der Abend hat sich emotional schon gelohnt. Was für eine Persönlichkeit!
 
Tänzer und Zushauer: glücklich!

Wenn sich die Compagnie in den bezaubernden Kostümen von Danielle Laurent auf der phantasievoll gestalteten Bühne von Dmitrii Simkin bewegt, muß man sich wundern, was für tolle Arbeit der

Foto: Aalto Theater / Bettina Stöss
geschiedene Ballettchef Martin Puttke kontinuierlich über die Jahre geleistet hat, denn hier stehen 24 Tänzerinnen und Tänzer, deren Qualität die erheblich größerer Nachbarbühnen mächtig übertrifft, und ich würde sagen, daß die Essener Ballett-Truppe heuer und in dieser Form mit zu den besten Deutschlands gezählt werden muß. Neben der grandiosen ersten Garde der Solisten: Adeline Pastor (Edith Piaf), die sich auch gesanglich toll einbrachte, dem Sprungwunder Denis Untila (Gilbert Bécaud), und dem Traum-Tänzer Ivan Korneev (Jacques Brel) waren noch weitere zehn Tänzer perfekt solistisch eingesetzt. Man spürte bei allen die gute Stimmung, wie die der Freude an der Bewegung, am harmonischen Tanz, und die beglückende Umsetzung der schönen alten Chansons in stimmungsvolle, meist klassische Ballett-Figuren. Damit sollten die „bad old times“ verklemmter Tanzabläufe, unnatürlicher Bewegungsmuster und gequält verschraubter unfallträchtiger Tanzschritte, oft auch noch gegen die Musik, endlich vorbei sein. Die Lockerheit und positive Ausstrahlung aller Künstler bewies, daß man jetzt fast wunschlos glücklich war. Ein Glücksgriff, dieser neue Ballettdirektor. Die Jugend wird er mit seinem Queen-Ballett demnächst begeistern.
 
Cauwenbergh dem Publikum verpflichtet

Cauwenbergh hat und wird das Ballett nicht neu erfinden, und er wird es auch nicht zur

Foto: Aalto Theater / Bettina Stöss
Experimentalbühne esoterischer Choreographen verramschen, welche die Gesundheit der Truppe gefährden – Gott sei Dank! Er choreografiert für sein Publikum und arbeitet im Sinne der Tänzer, der Musik und stets in einem überzeugenden aufwendigen Bühnenbild, wobei auch die gute Lichtregie ein wichtiges Element darstellt. Diesmal ein Bravo für Jürgen Nase!
 
Cauwenberghs Abschiedworte in Wiesbaden vor tausend tränenbenetzten Gesichtern waren: „Ihr seid wunderbar! Wir haben dieses Haus glücklich gemacht!“ Das ist eine Verpflichtung! Sein erster Abend in Essen zeigte nachdrücklich, daß er dieser Verpflichtung auch hier nachdrücklich verbunden bleiben wird. Ich kann diese Wiesbadener nun voll verstehen und man braucht kein Prophet zu sein um zu prognostizieren: Die Essener Ballettfreunde werden ihn auch lieben.

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Eine Übernahme mit freundlicher Erlaubnis des "Opernfreund" - Redaktion: Frank Becker