Ideologie ist nicht Politik

Surrealer Atom-Streit in der Ampel-Koalition

von Lothar Leuschen

Foto © Anna Schwartz
Ideologie ist nicht Politik
 
Surrealer Atom-Streit in der Ampel-Koalition
 
Von Lothar Leuschen
 
Der Parteitag der Grünen in Bonn bebt nach. Der Streit in der Ampel-Koalition um die Laufzeit der restlichen drei Atomkraftwerke in Deutschland hat Spaltpotenzial. Liberale und Grüne stehen sich wohl noch immer unversöhnlich gegenüber, gestern Abend mußte dann eine Entscheidung des Kanzlers per Machtwort her. Die einen (FDP) wollten Atomstrom aus drei Kraftwerken bis 2024, die anderen (Grüne) Strom aus zwei AKW bis Mitte April nächsten Jahres – und dann den Ausstieg aus der Kernkraft. Und die SPD? Hielt sich lange heraus, immer fürchtend, daß der Ampel der Strom ausgehen könnte, während der Rest der Republik mit wachsender Verzweiflung zuschaute. Jetzt hat Scholz unter großem öffentlichem Druck doch noch per Machtwort entschieden. Herausgekommen ist ein Kompromiß: Alle drei verbliebenen Atomkraftwerke sollen maximal bis April 2023 weiterlaufen können.
 
Der Streit war unwürdig. Denn es ist Energiekrise: Über Haushalten und Unternehmen schwebt ein Damoklesschwert. Wenn Experten nicht maßlos übertreiben, dann hängt es an einem seidenen Faden. Der steigende Preis für die Kilowattstunde Strom spricht dafür. Die aktuell fast 60 Cent sind ruinös, sowohl für privaten Haushalte als auch die Industrie. Dadurch erhielt der Streit surreale Züge. Deutschland geht es ans Eingemachte, und in Berlin haben zwei Regierungsfraktionen Betonpositionen bezogen. Die grünen Minister und Mandatsträger waren peinlich darauf bedacht, den Auftrag auszuführen, den die Parteibasis ihnen ins Pflichtenheft geschrieben hat. Atomkraft? Nein, danke. Ebenso verbohrt beharrte die FDP auf ihrer Maximalforderung. Aber diesmal schien sie der Wahrheit deutlich näher. Denn bei Licht betrachtet, folgte das Nein der Grünen zur ausgedehnten Laufzeitverlängerung keiner Logik. Es spricht schon aus Klimaschutzgründen mehr dafür, die AKW am Netz zu belassen, Kohlekraftwerke früher abzuschalten, regenerative Energieerzeugung zu forcieren und dann auf Atomstrom zu verzichten. Die Grünen haben sich für ihre Ideologie entschieden. Politik ist das nicht.
 
Der Kommentar erschien am 18. Oktober 2022 in der Westdeutschen Zeitung.
Übernahme des Textes mit freundlicher Erlaubnis des Autors.