Schlucke aus der Pulle Unsterblichkeit

von Detlef Färber

Detlef Färber - Foto © Silvio Kison
Schlucke aus der Pulle Unsterblichkeit
 
Salzburg, Festspielzeit: Vor Mozarts Heimatdenkmal klimpern die Gitarrenspieler. Das Volk amüsiert sich, tanzt, klatscht in die Hände und kramt das Geld raus. Seit das Wolferl hier so furchtbar darben mußte, wird jeder satt in dieser Stadt. Sogar die Autodidakten in den Passagen, die sich mit ihren allerersten Musikstunden an die Öffentlichkeit wenden, sind dick und rund und pumperlgsund. Die Sonne scheint, und alle sind guter Dinge. Und doch: Nirgends kann man so schön tot sein! Urplötzlich taucht die Sonne ab, und die Dunkelheit deckt alles zu. Endlich muß hier nichts mehr besichtigt werden, und wir können den lauen Sommerabend frei von Gewissensbissen beim nächsten Wirt genießen. Hier, denken wir, wird sogar Mozart mal müßiggegangen sein: Wenn er keine Töne mehr hatte.
       Mitternacht: Nach einigen Schoppen Ichweißnichtmehrwas beginnt es zu regnen. Der Kellner schimpft, denn wer jetzt noch nicht drin sitzt, der sucht das Weite. Die Turmuhren schlagen, als ein alter Mann im Salzburger Singsang, wenn auch etwas heiser, nach dem freien Platz an unserm Tisch fragt. Wir erschrecken, weil er wie aus dem Nichts auftaucht. „Ihr seid nicht von hier“, sagt der Mann, noch bevor wir ein Wort sagen können. „Seid froh, ich kenne Salzburg von oben und von unten, da könnt” ich viel erzählen.“ - „Tun Sie das“, erwidern wir in Anbetracht des Unvermeidlichen.
„Wo soll man da anfangen“, beginnt er schulterzuckend als hätte er sich's anders überlegt. „Der Regen, nicht wahr, es regnet hier fast immer, trotzdem ist es furztrocken.“ Wir glauben verstanden zu haben und winken dem Kellner wegen der nächsten Flasche. „Mit dem Regen ...“, läßt sich der Mann nicht beirren, „mit dem Regen, ja, das ist klar, erstmal! Die Berge da drüben schlitzen die Wolken auf, und nun müßte's eigentlich schütten. Tut's aber nicht. Das kommt hier so fein, so ganz fein, so daß man's nicht sieht, ob's regnet oder nicht. Und so ist's auch mit dieser ganzen verfluchten Stadt. Man sieht nie, was es ist. Aber irgendwas ist es trotzdem. Und es wird immer ein Geheimnis drum sein.“
       „So wie bei Mozart“, sagen und fragen wir in einem. Doch unser Gast schaut befremdet und nimmt angewidert einen ungeheuren Schluck. „Salzburg, das ist doch Mozart“, präzisieren wir schon unsicherer. „Und Mozart ist Salzburg!“, ruft der Mann und lacht lange und laut, doch ohne Fröhlichkeit. Und dann erzählt auch er uns noch mal, wie Mozart sich hier plagen mußte, und von den grausamen Trainingseinheiten, die ihm der böse Papa Leopold täglich abverlangte. Und vom Geiz des hiesigen Fürsten, der Mozarts Brötchengeber war. Und von seinem Abschied aus Salzburger Diensten, den ein Graf mit einem Tritt in den Hintern des Klassikers besiegelte. Und plötzlich hören wir auch Musik im Lokal: Unverkennbar Mozart, was da leise aus einer Box kommt. „Hört ihr“, sagt der Herr an unserem Tisch, „das ist er. Das Krönungskonzert-Larghetto.“
       „Ja, lustig“, sagen wir. „Jedenfalls solange das Klavier spielt“, sagt der Mann und hebt den Finger. „Aber jetzt: Das Orchester setzt ein, das ist doch wie ein Hammer. Dasselbe lustige Thema, aber was für eine Traurigkeit!“ Er schüttelt erschüttert den Kopf. „Nein, nein“, sagt er schließlich. „Mozart konnte diese Stadt nicht leiden. Kennt ihr den Choral ,Leck mir den Arsch fein recht schön sauber'? Damit muß er Salzburg gemeint haben.“ Der Herr an unserm Tisch nimmt einen weiteren großen Schluck und schaut uns tief in die Augen. „Der Mozart, der haßt Salzburg noch aus dem Jenseits!“ „Woher wissen Sie das“, fragen wir, denn nun wird uns mulmig. Aber da lacht er nur wieder: „Das weiß doch hier jedermann!“
       „Apropos ,Jedermann'!“ - wir können das Thema wechseln. „Habt's ihr euch den Schmarrn denn angeschaut“, fragt er im hiesigen Mutterlaut. „Leider nicht“ bedauern wir höflich. „Jedermann! Jedermann!“ ruft der Herr an unserem Tisch mit seiner hohen, heiseren Stimme, die schon ein bißchen besoffen klingt. „Jedermann dachte auch nicht dran! Keiner denkt dran, doch der Tod holt sie alle noch.“ Wir versuchen, uns mit ihm zu amüsieren, aber es gelingt nicht. „Wieso kommen die Leute zu diesem alten Spuk von so weit her?“, wollen wir wissen. „Das ist kein Spuk“, sagt der Herr an unserem Tisch und räuspert sich pikiert. „Das ist das ewige Gastmahl: Wein, Weib und Gesang. Je lauter draußen die Stürme pfeifen, je mehr es schon allen graust, umso lauter wird das Fest.“ Wir schütteln die Köpfe: „Was reden Sie da?“ - „Wartet, Kinder, jetzt kommt's. Beim Gastmahl, da klopft's manchmal. Und dann wird immer einer rausgerufen, und der kommt nicht wieder rein. Und jedermann kann das sein. In Salzburg auf den Kirchentreppen rafft's aber immer nur den reichen Jedermann hin ...“
       „Und die reichsten Jedermänner aus aller Welt ergötzen sich daran“, ergänzen wir wieder kopfschüttelnd. „Ja, barbarisch, nicht“, sagt der Herr an unserem Tisch, mit dem nun der Tiefsinn durchgeht. „Man sollte meinen, das stößt ab oder macht Angst. Macht es aber grade nicht, ganz im Gegenteil! Bei jedem, den dir der Tod vor der Nase wegholt, nimmst du einen Schluck aus der Pulle der Unsterblichkeit“, flüstert er - und schwenkt gleich darauf gebieterisch sein leeres Glas. „Oder was glaubt's ihr, warum die in der Oper dauernd sterben müssen!“ - „Oder im Kino“, soufflieren wir. Aber der Herr an unserem Tisch schaut uns an, als wären wir Chinesen. Dann legt er seine dürren, kalten Hände auf unsere und flüstert: „Und diese Schlucke aus der Pulle bekommen dir von Mal zu Mal besser, bis, ja, bis eines schönen Tags der bleiche Finger auf dich zeigt.“
       Kurz vor Eins: Auf einmal geht alles ganz schnell. Noch bevor der Kellner kassieren kommt, erhebt sich der Herr von unserem Tisch. Er scheint es jetzt sehr eilig zu haben. Fast im Laufschritt biegt er links in die Gasse hinauf, Richtung Sankt Peters-Kirchhof. Gleich darauf schlägt die Turmuhr ein letztes Mal.
       „Feierabend“, sagt der Kellner. „Kannten Sie diesen Herrn?“, fragen wir ihn. „Ja, schon“, sagt er widerwillig. „Den kennt hier jeder. Aber reden tut keiner mit ihm.“
 

© Detlef Färber