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Franci Rabinek Epstein – „Die Elektrikerin“ - Mein Leben als tschechische Jüdin 1939 bis 1945

von Sabine Kaufmann

A-4116
 
Ein erschütterndes Überlebenszeugnis
 
Es ist einfach unfaßbar, wie sehr eine neue Rechte mit faschistischen Tendenzen sich in jüngerer Zeit in Deutschland immer breiter machen, fahnenschwingend und stumpf Parolen brüllend ungestraft durch die Straßen ziehen und von Redner-Podien – wenn auch versteckt – die den fürchterlichen Judenhaß der Nationalsozialisten enthaltende Ideologie der braunen Horden und SS-Schergen aufleben lassen darf. Es ist vor allem deshalb so vollkommen unverständlich, weil man 77 Jahre nach dem Ende des verbrecherischen Dritten Reichs und dessen grauenhaften Massenmorden an europäischen Juden und anderen Minderheiten bzw. Systemgegnern doch erwarten dürfte, daß die Generation der Mörder weggestorben ist und eine Aufklärung durch Schule und Medien erfolgreich und nachhaltig vor dieser einzigartig schrecklichen Epoche deutscher Geschichte gewarnt hat. Was um Himmels willen ist es, das da in den verqueren Köpfen köchelt? Man muß unbedingt den Anfängen wehren, bevor es brodeln kann.
 
Womit ich bei einem soeben erschienenen Buch bin, dessen Lektüre mich tief erschüttert hat, dessen Lektüre Pflicht nicht nur in Schulen sein sollte. Es sind die Aufzeichnungen von Franci Rabinek Epstein (1920-1989), die als tschechische Jüdin in Prag von 1939 bis 1942 Zug um Zug erst die Entrechtung und Enteignung der Bürger jüdischer Konfession und die Pogrome, ab 1942 Deportation und KZ-Haft miterlebt hat. Nachdem man ihr und ihrer Familie sämtliche bürgerlichen Rechte, die Wohnung und das florierende Mode-Atelier genommen hatte, folgte die Deportation ins Ghetto Theresienstadt (Terezin), wo alle unter unwürdigen Verhältnissen leben mußten. Die darauf folgenden Stationen ihres Leidensweges nach dem Ghetto waren der Transport in Viehwaggons ins Frauenlager des KZ Auschwitz-Birkenau, Synonym für die tödliche Maschinerie der nationalsozialistischen Machthaber und ihrer SS-Schergen, dann Hamburg (die Außenlager des KZ Neuengamme: Dessauer Ufer, Neugraben und Tiefstack) und schließlich, Gipfel des Grauens, das Vernichtungslager Bergen-Belsen. Hier endete der jahrelange Überlebenskampf der jungen Frau 1945 mit der Befreiung durch britische Truppen, deren Mannschaften und Offiziere mit bemerkenswerter Feinfühligkeit mit den befreiten Frauen umgingen. Francis Mann und ihre Eltern waren von den Nazis schon 1942 umgebracht worden. Sie war allein, hatte aber gute Freundinnen, die ihr Schicksal geteilt hatten.
 
       Dreißig Jahre später zeichnete sie in einzigartig nüchternem Stil ihre Erlebnisse in der Zeit der Nazi-Herrschaft und Lagerhaft auf und ließ sich überzeugen, sie als Buch zu veröffentlichen. Sie erzählt in ihrem Typoskript das eigene Erleben ohne Vorbehalt, davon wie die gefangenen Frauen entwürdigt wurden, wie sich Solidarität und lebenslange Freundschaften bildeten, aber auch von Macht- und Verteilungskämpfen. Sie beschreibt greifbar die entsetzlichen menschlichen und hygienischen Umstände in den Lagern, die unvorstellbaren Lebens-Bedingungen, an die sich die Gefangenen anpassen mußten, um nicht zu verzweifeln oder gleich umgebracht zu werden. In den schlimmsten Phasen der Erinnerung wechselt sie vom erzählenden, erinnernden Ich nach „außen“, nennt sich in der neutralen Form bei der auf ihren Arm tätowierten Häftlings-Nummer A-4116. Daß die lebenshungrige junge Frau überleben konnte, ist ihrer kühnen Behauptung dem berüchtigten Lagerarzt Josef Mengele gegenüber zu verdanken, sie sei Elektrikerin – und sich darin zu bewähren.
 
       Ein Kapitel für sich sind Franci Rabineks Probleme bei der Repatriierung in ihre tschechische Heimat und der Kampf gegen die dortige Bürokratie zur Wiedererlangung ihrer Rechte als Bürgerin der Republik. Auch die bitteren Enttäuschungen durch frühere nichtjüdische Prager  „Freunde“, die sich an dem bei ihnen anvertrauten Eigentum der Familie Rabinek bereichert hatten, erwähnt sie im letzten Kapitel ihres Buches. Eine Schande. Das ist eine eigene Geschichte wert.
1948, Franci hatte in Prag wieder ein Modegeschäft aufgebaut, noch einmal geheiratet und eine Tochter geboren, emigrierte die kleine Familie vor der nun von der UdSSR in der CSSR installierten kommunistischen Gewaltherrschaft, um nicht noch einmal Repressionen zu erleben, in die USA.
 
       Es ist bezeichnend, daß in den 1970er Jahren, als alle das Dritte Reich vergessen wollten, kein Verlag an ihren Erinnerungen interessiert war. Vielleicht nicht zuletzt wegen seiner nichts verschweigenden Offenheit blieb der Text lange unveröffentlicht und wurde erst vor kurzem in den USA und mehreren europäischen Ländern auf Betreiben ihrer Tochter publiziert. Er erscheint nun erstmals in deutscher Übersetzung.
Mit einem Nachwort von Francis Tochter Helen Epstein, in dem die renommierte Autorin zum Verständnis wichtige Erinnerungen und Briefstellen zitiert sowie durch Recherchen belegte Namen von Tätern verifiziert.
Es ist ein ungemein mitnehmendes Buch, das durch seine Ungeschminktheit fesselt und breite Aufmerksamkeit verdient. Eine Empfehlung der Musenblätter.
 
Franci Rabinek Epstein – „Die Elektrikerin“
Mein Leben als tschechische Jüdin 1939 bis 1945
Hrsg. von der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte zur Erinnerung an die Opfer der NS-Verbrechen - Mit einem Nachwort von Helen Epstein
Aus dem amerikanischen Englisch von Sabine Niemann
© 2022 Dölling und Galitz Verlag, 232 Seiten, gebunden, Lesebändchen, 25 Abbildungen - ISBN 978-3-86218-162-9
28,- €
 
Weitere Informationen: www.dugverlag.de