Clemens Brentano: Strani e Geniali

Ein großer Dichter zwischen Kuriosem und Genialem

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Clemens Brentano: Strani e Geniali
 
Ein großer Dichter zwischen Kuriosem und Genialem
 
Von Heinz Rölleke
 
Vor 180 Jahren ist der Halbitaliener Clemens Brentano 63-jährig gestorben. Er ist einer der eigenwilligsten und wirkungsmächtigsten Figuren der deutschen Literaturgeschichte. Sein Rang als bedeutendster Lyriker der Romantik ist unbestritten, wird aber in der neueren Forschung viel zu selten herausgestellt. Als kleines Beispiel sei hier ein kurzes Gedicht zur Erinnerung oder zum Kennenlernen angeführt - wie bei vielen seiner poetischen Werke gilt auch hier Nietzsches begeistertes und wohl zutreffendes Urteil, daß unter den deutschen Dichtern Brentano „am meisten Musik im Leibe“ habe.
 
In seinem Theaterstück „Die lustigen Musikanten“ aus dem Jahr 1802 ist ein kleiner Dialog zwischen dem blinden Piast und seiner Führerin Fabiola so berühmt geworden, daß er in Lyrikanthologien fast immer als selbständiges Gedicht unter dem nicht vom Dichter formulierten Titel „Abendständchen“ vertreten ist:
 
                        Hör', es klagt die Flöte wieder,
                        Und die kühlen Brunnen rauschen.
                        Golden wehn die Töne nieder,
                        Stille, stille, lass uns lauschen!
                        Holdes Bitten, mild Verlangen,                    
                        Wie es süß zum Herzen spricht!
                        Durch die Nacht, die mich umfangen,
                        Blickt zu mir der Töne Licht.
 
       Dies gilt als eines der genialsten Beispiele für Synästhesien (Verschmelzung verschiedener Empfindungen etwa des Sehens und des Hörens, die den Rezipienten zum Mitempfinden einlädt). Brentanos Verse werden bis heute in literarischen Handbüchern als das Muster für diese Kunst angeführt. Sie galt in der Romantik als eine Art Krönung des poetischen Schaffens. Brentano beherrschte sie wie viele andere neue lyrische Kunstübungen geradezu spielerisch. Das „Abendständchen“ geht gemäß der Wahrnehmungsmöglichkeit eines Blinden von eindeutigen akustischen Phänomenen aus: Die Flöte tönt klagend, die kühlen Brunnen rauschen. Sodann verbinden sich in der Wendung „golden wehn die Töne“ Gesichts- und Hörsinn harmonisch und unauffällig. Durch ein zweifaches „St“ wird akustisch kunstvoll gänzliche Stille eingefordert („stille, stille“), damit „der Töne Licht“, das wie ein Lebewesen den Hörer 'anblickt', seine volle Wirkung entfalten kann. Soweit das kleine Streiflicht auf die unvergleichlich vielseitige Genialität des Dichters, wobei neben vielem anderen seine einmaligen und wunderbaren Märchendichtungen besonders erwähnt werden müssen.
 
       Hier soll sich eine kleine Auswahl der Kuriosa anschließen, die sein ganzes Leben anekdotisch umgeben. In ihnen zeigt sich

Clemens Brentano
durchweg die Eigenwilligkeit des Menschen und des Dichters, der die Welt in vielen Situationen mit anderen Augen sah und darstellte. So bestimmte er selbstherrlich und erfolgreich, welches Datum die Öffentlichkeit als Tag seiner Geburt (zum Teil bis heute!) annehmen sollte: Er war am 9. September 1778 geboren, sah darin aber einen Fehler der Schöpfung, denn er meinte, er habe zweifellos an einem 8. September, dem Festtag Mariae Geburt, zur Welt kommen müssen. Einer seiner vielen Vornamen war schließlich „Maria“ (so nannte er sich auch als Verfasser seines Romans „Godwi“), zudem war er nach dem frühen Tod seiner Mutter ein eifriger Marienverehrer; vollends bestätigt fühlte er seine eigenmächtige Korrektur der Vorsehung, als er erfuhr, daß die von ihm wie eine Heilige verehrte Anna Katharina Emmerick, als deren „Schreiber“ er sich seit 1818 zeitlebens berufen fühlte, am 8. September 1774 geboren war. Als erste poetische Leistung hat er seine frühkindliche Umdichtung des Tischgebets gerühmt. Statt „Komm, Herr Jesus, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast“, betete das Kind heißt es „... an meiner Mütze ist ein schöner Quast.“ Als er einmal an der Hand seiner Mutter die sonntägliche Vesper im Frankfurter Dom besuchen durfte, hatte man sich verspätet, durchschritt aber trotzdem den Mittelgang der Kirche bis zu den den Brentanos vorbehaltenen Bänken im Chorraum. Als man den Dom betrat, hatten sich die Gläubigen gerade zum „Salve regina“-Gebet erhoben, und der kleine Clemens bezog die Worte „O clemens (virgo Maria)“ ganz selbstverständlich auf sich in der Überzeugung, das Kirchenvolk habe sich ihm zu Ehren erhoben und ihn mit seinem Vornamen feierlich begrüßt. Auf seinem Sterbebett in Aschaffenburg versuchte ihn der Priester mit dem Ausblick auf den Himmel zu stärken, in dem er ja bald die Engel leibhaftig sehen würde, die er so oft bedichtet habe. „Wenn die Engel wie auf Euren bayrischen Bierkrügen aussehen, möchte ich die lieber nicht sehen“, war die verblüffende Antwort des Ästheten Brentano. Die Krankensalbung soll er zunächst mit dem Seufzer „Jetzt aber nichts Fettiges“ abgelehnt haben.
 
       Brentano war nicht nur als Dichter genial, sondern auch als Anreger ganz erstaunlich vieler Bewegungen, deren Spuren

Loreley - Foto © Arkadiy Kurta
größtenteils noch heute wahrzunehmen sind. Aus seiner Frühzeit ist die Erfindung der „Loreley“ und deren Mythos zu nennen, die immer wieder fälschlich Heinrich Heine zugeschrieben werden. Die Frühromantik hatte einen neuen Mythos gefordert, da die klassische Mythologie ausgeschöpft und für die moderne Kunst nicht mehr brauchbar sei. Brentano war nicht nur der Schöpfer eines neuen, bis heute wirkmächtigen Mythos, sondern er entdeckte auch unausgeschöpfte und seit der Aufklärung verpönte wertvolle Literatur vom Mittelalter bis zur Barockzeit. Neben vielen Veröffentlichungen von oft seit Jahrhunderten nicht mehr gedruckten Texten sind etwa als editorische Großtaten Bearbeitungen und Veröffentlichungen des Romans „Der Goldfaden“ von Jörg Wickram (1557) sowie der Lieder des Friedrich von Spee, die unter dem Titel „Trutznachtigall“ (1649) posthum erschienen waren. Bekannt geblieben ist „Des Knaben Wunderhorn“ (auch durch eine ungewöhnliche Zahl von Vertonungen). Diese – neben Grimms Märchen – bedeutendste Anthologie der Romantik, die er gemeinsam mit seinem Freund Achim von Arnim erstellte, enthält eine Reihe wunderbarer Gedichte aus der Zeit Neidharts (um 1350) bis hin zu Kunstwerken des Barock (17. Jahrhundert), die bis dato gänzlich vergessen waren. Das wird bisweilen kritisiert, da es sich beim „Wunderhorn“ doch in erster Linie um eine Anthologie deutscher Volkslieder handle, die vor ihrem Verstummen gerettet wurden; dabei übersieht man, daß der Untertitel der Sammlung „Alte deutsche Lieder“ lautet und damit Lizenz für die Aufnahme sowohl anonymer Volkslieder wie überhaupt älterer Dichtungen gibt. Die seit dem „Wunderhorn“ (wieder) populär gewordenen Lieder sind zum großen Teil Überarbeitungen Brentanos, so etwa „Zu Straßburg auf der Schanz“ oder „Die Gedanken sind frei“. In einem Anhang schuf Brentano die erste bedeutende Sammlung von Kinderliedern (eine bis dahin kaum beachtete literarische Gattung). In diesem Zusammenhang ist die gar nicht hoch genug zu bewertende Anregung zur Sammlung hauptsächlich mündlich überlieferter Märchen zu nennen, die das unsterbliche Werk der Brüder Grimm in Gang setzte. Er selbst schuf seine wundervollen Kunstmärchen zum Teil nach dem erst durch ihn in Deutschland bekannt gewordenen „Cunto de li cunti“ des Italieners Basile (1636), zum Teil nach seinerzeit mündlich im Maingebiet kursierenden Märchenerzählungen.
 
       Diese blühenden, allenthalben literarisches Neuland gewinnenden und viele Nachahmer bis heute anregenden künstlerischen Produktionen nahm mit dem Erscheinen seiner Meisternovelle „Geschichte vom braven Kasperl und dem schönen Annerl“ im Jahr 1817 ein abruptes Ende. Im gleichen Jahr war er mit einer Generalbeichte zur katholischen Kirche revertiert und hatte seine frühen

Die Hauben der stigmatisierten Anna Katharina Emmerick - Foto © Frank Becker
Dichtungen als „Toilettensünden seiner Jugend“ diskreditiert, sie in Bausch und Bogen verurteilt. Fortan lebte er fünf Jahre in Dülmen, wo er ausschließlich damit beschäftigt war, die Visionen der Nonne Anna Katharina Emmerick anzuhören und zu Papier zu bringen. Aus dem bis heute nicht gänzlich aufgearbeiteten Riesenkonvolut konnte er zu Lebzeiten (im Jahr 1833) nur „Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu“ anonym als Buch herausgeben. Die Visionen der Analphabetin ergänzte und verdeutlichte er durch eigene Weiterführungen. Eine Zweitauflage folgte schon 1834, eine französische Übersetzung erschien seit 1835 in zahllosen Auflagen, eine Italienische Bearbeitung war seit 1837 auf dem Buchmarkt, und vor allem in den USA fand das Buch unter deutschen Einwanderern geradezu reißenden Absatz. Die Leserschaft war von der farbigen Ausgestaltung biblischer Leerstellen (Stätten die durch Jesu Passion geheiligt waren, Kleidung Marias, Josephs und der Apostel, detaillierte Beschreibung der im Neuen Testament genannten Örtlichkeiten und Bauwerke usw.) fasziniert. Das Buch beeinflußte auf eine kaum vorstellbare Weise die biblischen Erzählungen und die christliche Ikonographie des 19. Jahrhunderts (die posthum erschienenen Schriften „Lehrjahre Jesu“ und „Leben der Jungfrau Maria“ fanden weniger Resonanz). Die genaue Beschreibung des Hauses Johannes des Evangelisten und der Mutter Maria in der Gegend von Ephesos, führte Ende des 19. Jahrhunderts zu ausgedehnten archäologischen Untersuchungen und Funden. Die freigelegte Ruine wurde schon bald zu einem der wichtigsten Wallfahrtsorte für Christen und Muslime. All das geht auf Brentanos Schrift zurück, ohne daß dies den Wallfahrern bekannt wäre. Auf die Brentano'schen Visionsberichte geht letztlich auch die Seligsprechung der Anna Katharina Emmerick durch Papst Johannes Paul II. im Oktober 2004 und deren seitdem wachsende Verehrung zurück. Eine solche Wirkung können wohl nur die Werke weniger Dichter vorweisen. Gelobt aber auch angegriffen wurde seine Rolle, die er nach seiner Reversion als Diener der katholischen Propaganda übernahm, und das hatte in mancher Hinsicht seine Richtigkeit. 1831 gelang es ihm, den in Frankreich schon lange segensreich wirkenden Orden der Barmherzigen Schwestern auch in Deutschland zu verbreiten, und seine Schrift (deren sperriger Titel allerdings wie eine sprachliche Bußübung anmutet) zeigte die großartigen sozialen Leistungen der „Soeurs de la Charité“ auf: „Die Barmherzigen Schwestern in Bezug auf Armen- und Krankenpflege“ (1831). Etwa gleichzeitig bemühte er sich mit Erfolg, katholische Büchereien einzurichten – eine Idee, die bis heute in den zahllosen Borromäus-Büchereien vieler Pfarreien eminente Wirkung zeitigt.
 
       Die Menge und Dauerhaftigkeit seiner zum Teil bahnbrechenden Anregungen ist wohl kaum angemessen aufzuzeigen. In dieser Hinsicht wäre auch eine Spekulation zu erwägen, nach der Clemens Brentano für die neuere Philosophiegeschichte eine Rolle spielt. Franz Brentano war der Neffe des Dichters und sein Patenkind. Er war der Sohn Christian Brentanos, der mit den Ideen seines jüngeren Bruders konform ging, so daß ein entsprechender Einfluß auf Franz Brentano zweifellos anzunehmen ist. Er wurde Priester und trug seit 1870 die Abspaltung der Altkatholiken von der Mutterkirche entscheidend mit, legte seine Ämter nieder und wurde hoch angesehener Philosophieprofessor an der Universität Wien. Zu seinen herausragenden Schülern und Hörern zählen Koryphäen wie etwa Edmund Husserl, Martin Heidegger, aber auch Sigmund Freud. Es wäre eine lohnende Aufgabe der Forschung, Spuren der Gedankenwelt des späten Brentano in deren Werken und Wirken auszumachen.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022