„Der Augenblick ist mein“

Zur Bedeutung eines häufig begegnenden Kompositums

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
 „Der Augenblick ist mein“
 
Zur Bedeutung eines häufig begegnenden Kompositums
 
Von Heinz Rölleke
 
Das mitten in der grauenvollen Zeit des Dreißigjährigen Krieges entstandene Gedicht „Betrachtung der Zeit“ des Andreas Gryphius (1616-1664) spricht die Wertung von Präteritum, Futur und Präsens an:
 
                        Mein sind die Jahre nicht,
                        die mir die Zeit genommen;
                        mein sind die Jahre nicht,
                        die etwa möchten kommen;
                        der Augenblick ist mein,
                        und nehm ich den in acht,
                        so ist der mein,
                        der Zeit und Ewigkeit gemacht.
 
An anderer Stelle faßt Gryphius einen ähnlichen Gedanken in aller Kürze: „Ich geh den Augenblick zu holen Trost, vollauf.“
 
Was meint „Augenblick“? Die Bildende Künstlerin Elsbeth Gisinger_Fessler hat in den MUSENBLÄTTERN am 06.04.2022 unter dem aus Goethes „Faust II“ übernommenen Titel „... und wär's ein Augenblick“ darüber Auskunft zu geben versucht, da ein Großteil ihrer Werke sich „mit dem Phänomen 'Zeit'“ befaßt. Ihre künstlerische Beschäftigung mit Position und Bedeutung des Augenblicks im zeitlichen Ablauf zeige „die Vergänglichkeit, denn dieser eine Moment ist unwiederbringlich verloren. „Warum sie zuvor die merkwürdige und durch nichts belegte Feststellung getroffen hatte, der „Augenblick“ habe „ein Verweildauer von drei Sekunden“, wird nicht recht deutlich. Vielleicht ist bei dieser Überlegung jeweils eine Sekunde der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft zugemessen? Das kann insofern nicht richtig sein, weil dem Augenblick, genau betrachtet, keinerlei zeitliche Ausdehnung zuzusprechen ist. Denn wenn man vom Kompositum „Mo-ment“ die erste Silbe „Mo- ausgesprochen hat, ist sie schon Vergangenheit, während die unmittelbar darauf geplante Artikulation des „-ment“ noch Zukunft ist; zwischen beiden besteht eine zeitlose Gegenwart, wie sie sich hier im stumm bleibenden Bindestrich andeutet. Die Gegenwart gibt es, aber sie ist real weder zeitlich noch räumlich zu fassen. Für die Geometrie existiert der Einstich eines Zirkels als Mittelpunkt eines Kreises, aber er hat keinerlei räumliche Ausdehnung Bei der Berechnung des Kreisinhalts kann er keine Rolle spielen. Wenn man ein Brot schneidet, liegt die Entstehung jeder fertigen Schnitte in der Vergangenheit; die Avisierung einer neuen Schnitte liegt in der Zukunft. Dazwischen liegt realistisch betrachtet ein räumliches und zeitliches Nichts. Das hatte schon der altgriechische Dichter Poseidippos im 3. Jahrhundert v. Chr. angedeutet, wenn er als Selbstaussage des personifizierten καιρός formuliert: „Ich bin spitzer als eine Messerspitze.“ Entsprechend wird der Gott Kairós in antiken Abbildungen als eine Rasierklinge genau mitten unter einer Waage vorgestellt, in der die linke Schale die Vergangenheit, die rechte die Zukunft bedeutet, das heißt, der Kairós hat zwischen den Tempora nur eine trennende Funktion, aber er gewinnt kein Eigenrecht. Hier könnte man das berüchtigte Beispiel aus der mittelalterlichen Scholastik anführen: Wie viele Engel haben auf einer Nadelspitze Platz? Die Antwort wäre: Keiner und unzählige. Der die Zeiten trennende Augenblick ist ein Nichts oder ein Alles, wie es auch schon in den Versen des Gryphius anklingt: Er hat auf der Erde keinen Platz, aber er verweist, religiös-philosophisch aufgefaßt, auf die ewigen Bereiche: Der Augenblick ist ein Symbol für die zeitlose Ewigkeit, die man gewinnt, wenn man in ihr das Wirken einer göttlichen Macht, die an keinen Raum und keine Zeit gebunden ist, erkennt. Die Betrachtung des im Irdischen zeitlosen Augenblicks führt unweigerlich zur Betrachtung der im göttlichen Bereich ebenso zeitlosen Ewigkeit. So gesehen ist der Augenblick eine Nahtstelle oder gar die Brücke zwischen Zeit und Ewigkeit, wie es der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Korinther (15.52) ausgedrückt hat: 
 
       Ich sage euch ein Geheimnis: Wir alle werden verwandelt werden,
       und zwar plötzlich, in einem Augenblick, beim letzten
       Posaunenschall.
 
In einem Moment wird der Mensch vom Diesseits zum Jenseits gelangen. Im Jenseits aber gibt es wie beim Augenblick keine irdischen Zeitmessungen:
 
       Viel Jahre tun es nicht, die Ewigkeit zu wissen: Ein Augenblick,
       und nicht so viel muß sie umschließen.
 
Der schlesische Mystiker Daniel von Czepko (1605-1660) umschreibt so die Identität von Augenblick und Ewigkeit. Nach Plato entfaltet sich die irdische Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in der Ewigkeit aber gibt es nur den zeitlosen Augenblick, eine immer währende Gegenwart. Hölderlin ist das Paradoxon, daß die Zeit auch in ihrem Stillstand des ewige Augenblicks weiter strömt, beim Blick von der Heidelberger Brücke auf den Neckar erkennbar geworden: Das Wasser strömt unaufhaltsam, obwohl die scheinbar still stehende Wellenformation an derselben Stelle immer die gleiche bleibt. Als „Nunc stans“ hatte der Kirchenvater Augustinus daraus die Erkenntnis entwickelt, daß Gott und die Ewigkeit im stehenden Jetzt eines ewigen Augenblicks verharren. Nach Gryphius aber muß der  Mensch in seinem irdischen Leben jeden Augenblick „achten“, das heißt, ihn hochachten, hochschätzen und ihn entsprechend nutzen, denn seine Vergangenheit und seine Zukunft sind keine Realitäten, sondern bloße Erinnerungen und Vorstellungen. Der Mensch hat in diesem Belang nichts als sich selbst und seine augenblickliche Gegenwart. „Achtet“ er diese Augenblick, so achtet er zugleich den göttlichen Schöpfer in dessen ewiger Zeitlosigkeit; denn „Ein Augenblick ist kurz“ und „Nichts Zeitliches ist in Gott“, dichtet Angelus Silesius (1624-1677).
 
In seinem Gedicht „Kein Wesen kann zu nichts zerfallen“ resümiert Goethe:
 
       Vernunft sei überall zugegen,
       Wo Leben sich des Lebens freut.
       Dann ist Vergangenheit beständig,
       Das Künftige voraus lebendig,
       Der Augenblick ist Ewigkeit.
 
Johann Gottfried Herder hat in seinen „Kritischen Wäldern“ die Identität von Augenblick und Ewigkeit aus der religiösen Sphäre in den Bereich der Kunst übertragen.
       Ist aber wiederum der eine ewige Augenblick der bildenden
       Kunst nicht so, daß er einen ewigen Anblick gewähren könnte,
       so ist ihr Wesen auch nicht erreicht.
 
In „Faust II“ verwendet Goethe das Wort „Augenblick“ im umfassenden Sinn: Im Helena-Akt, dem Höhepunkt der Tragödie heißt es: „Dasein ist Pflicht und wär's ein Augenblick“; Fausts letztes Wort ist „Im Vorgefühl von solchem hohen Glück, genieß ich jetzt den höchsten Augenblick.“ In der Begegnung mit Helena hat er erkannt, daß die Pflichterfüllung und das Ziel des Lebens sich letztlich nur im Augenblick realisieren. Dieses Ziel hat  der sterbende Faust endgültig erkannt und so seinem Übergang in die Ewigkeit Ausdruck verliehen: Von der Zeitlosigkeit des Augenblicks im Erdenleben zur Zeitlosigkeit der Ewigkeit im Jenseits, genau der Verwandlung folgend, wie sie Paulus prophezeit: Alle werden verwandelt in einem Augenblick, im Moment des Todes.
            Wie hat sich die Bedeutung des Wortes „Augenblick“ im Lauf der Sprachgeschichte entwickelt? In einem Augenblick, in ictu oculi, bei einem Wimpernschlag - was wissen die Wörterbücher über das Kompositum? Adelung definiert 1774: „kurze Dauer, unteilbar“, und aus diesem Grund hält er die Wendung  „Augenblickchen“ mit einigem Recht für Unsinn. Grimms Deutsches Wörterbuch von 1854  führt die Wortgeschichte auf die Wendung „mit den Augen blicken“ zurück, wie aus einem Liebesgedicht Walthers von der Vogelweide vom Ende des 12. Jahrhunderts erhellt: „ir vil minnecliche ougenblicke rüerend mich“ (die sehr liebevollen Blicke ihrer Augen rühren mich). Sodann wird das Wort in der gleichen Bedeutung wie ein zeitlich kaum messbarer Wimpernschlag belegt. Schiller nennt den Augenblick das höchste Geschenk des Himmels an den Menschen:
 
       Aus den Wolken muß es fallen,
       aus der Götter Schoß, das Glück
       […]
       und der mächtigste von allen
       Herrschern ist der Augenblick.
 
Der jenseitige Bereich wird auch am Ende von Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ berufen. Das tragisch ums Leben gekommene Liebespaar wird gemeinsam in einer Kapelle aufgebahrt: „Welch ein freundlicher Augenblick wird es sein, wenn sie dereinst wieder zusammen erwachen.“ Auch hier wird noch einmal der Transitus vom Diesseits zum Jenseits in der Vorstellung des „Augenblicks“ berufen, wie ihn Gryphius sah. Wer ihn im Leben „achtet“ und recht anwendet, der erlebt mit Gott verbunden „Zeit und Ewigkeit“.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022