„Marx und Engels statt Engels & Völker“

„Karl Marx und der Kapitalismus“

von Johannes Vesper

„Marx und Engels statt Engels & Völker“
 
Karl Marx und der Kapitalismus
Begleitband zur Ausstellung im
Deutschen Historischen Museum Berlin
 
Aktuell werden bei kriegsbedingter Energieknappheit Kaminöfen eingebaut und Kamine reaktiviert, weil Heizbürger glauben, dank heimischen Holzes die Bude zumindest zeitweilig warm zu kriegen. Darüber, daß wildes Holzsammeln um 1820 in der Eifel strafbar war, hat sich Karl Marx hat schon als junger Mann publizistisch erregt. Seine Aktualität steht also außer Frage. Spätesten seit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise von 2007/2008 weckt aber auch die Marxsche Kritik am Kapitalismus wieder Interesse. . Die mit seinem Namen verbundene Ideologie führte im 20. Jahrhundert zu üblen, totalitären Diktaturen: in Russland über Marxismus-Leninismus und Stalinismus mit der Unterbrechung durch Glasnost und „Wende“ bis hin zu Putin, der den alten russischen Zusammenhalt zwischen Autokratie, Orthodoxie und Volk jetzt für den Ukrainekrieg nutzt. Das konnte Karl Marx natürlich nicht voraus ahnen.
 
Das Interesse an Karl Marx belegt das Deutsche Historische Museum mit einer eigens veranstalteten Umfrage, bevor es Ideen und Einfluß des vielleicht wichtigsten Denkers des 19. Jahrhunderts in seiner Ausstellung „Karl Marx und der Kapitalismus“ (10.02.-21.08. 1922.) präsentiert. Dabei hat Karl Marx den Begriff „Kapitalismus“ fast nicht benutzt, wie Jürgen Herres und Sabine Kritter im Begleitband zur Ausstellung schreiben. Die Ausstellung geht anders als die große Landesausstellung 2018 in Trier nicht biografisch vor. In acht Kapiteln dieses Begleitbandes werden wichtige Fragen zu den gesellschaftlichen Krisen und Konflikten seiner Zeit im Gefolge der Industrialisierung behandelt. Als unbequemer Revolutionär, Philosoph, Journalist, Ökonom und politischer Aktivist war er in Frankreich, Belgien und Preußen untragbar, lebte als staatenlosen Europäer deutscher Herkunft oft in prekären Verhältnissen zuletzt lange in London, schrieb, bzw. ließ von seinem Freunde Friedrich Engels schreiben über die gesellschaftlichen Entwicklungen der USA, Großbritanniens, Frankreichs, Russlands, Indiens und verfasste das „Kapital“, jedenfalls den 1. Band. Wie Karl Marx zu Antisemitismus, Revolution und Gewalt, neuen Technologien, Naturzerstörung, globalen Wirtschafts- und Finanzkrisen in der ersten Globalisierungswelle stand und vieles andere wird behandelt, dar- und ausgestellt.
 
Im Kapitel „Judenemanzipation und Antisemitismus“ geht Sebastian Voigt auf sieben Seiten der langen Geschichte des religiösen Antijudaismus und der Entstehung des modernen Antisemitismus nach, wobei die europäischen und deutschen Pogrome des Mittelalters (Köln, Mainz Würzburg, Nürnberg u.a.) nur global abgehandelt werden und die Entstehung des aus dem Russischen stammenden Begriffs „Pogrom“ nicht erläutert wird, der erst seit den entsetzlichen russischen Pogromen in der Ukraine (1821, 1885) in der heutigen Bedeutung benutzt wird. Immerhin interessant, daß Voltaire den Juden Kannibalismus vorgeworfen, und schon Kant von einer „erforderlichen Euthanasie des Judentums“ gesprochen hat. Auf das preußische Edikt von 1812 zur unvollständigen Judenemanzipation wird zwar nicht im Text aber immerhin in der Ausstellung hingewiesen. Daß Wilhelm Marr erst Ende der 1870er Jahre den Begriff des „rassistischen Antisemitismus“ geprägt hat, erleichtert vielleicht das historische Verständnis Marxscher Äußerungen zur Judenfrage. Seine Schrift zur Judenfrage von 1843 setzt sich mit den Positionen des Freundes Bruno Bauer auseinander, definiert das Judentum auch schon nicht mehr rein religiös, sondern eher gesellschaftlich als Welt von „Eigennutz , Schacher und Geld“ und meint vielleicht eher die stets auf Gewinn ausgerichtete kapitalistische Gesellschaft, wenn er schreibt: „Aus ihren eigenen Eingeweiden erzeugt die bürgerliche Gesellschaft fortwährend den Juden“. Denn als Redakteur ist er durchaus für die Emanzipation der Juden eingetreten. Später verzichtet er auch auf die Identifikation von Geld und Judentum (Gerhard Scheid in seinem Essay). Die Diskussion über Richard Wagners unsägliche Schrift „Das Judentum in der Musik“ und den Gedanken Adornos, der darin Alberich und Mime aus dem „Ring“ wiedererkennen will, macht neugierig auf die folgende Ausstellung des DHM über „Richard Wagner und das deutsche Gefühl“. Karl Marx hielt nicht viel vom „Staatsmusikanten Wagner“ und dem „Bayreuther Narrenfest“.
 
Auf 303 Seiten liest man viel auch aktuell Interessantes und erfreut sich an zahlreichen Abbildungen. Amüsant sind die Kapitel trennenden Abbildungen von Street Art (teilweise im Zusammenhang mit dem Goethe-Institut entstanden), wie auch u.a. das SDS-Plakat von 1969 („Alle reden vom Wetter…“) oder das Protestbanner aus Berlin von 2021 (siehe Überschrift). Noch immer inspiriert Karl Marx von Frankfurt bis Montevideo. Die Ausstellung zeigt mit Gemälden, Zeichnungen, Dokumenten, Fotografien und Plakaten, auch Audiocollagen, Grafiken und Animationen Wucht und Ambivalenz der gesellschaftlichen Verhältnisse des 19. Jahrhunderts.
 
„Karl Marx und der Kapitalismus“ - herausgegeben von Raphael Gross, Jürgen Herres und Sabine Kritter für das Deutsche Historische Museum
© 2022 Deutsches Historisches Museum und Wissenschaftliche Buchgesellschaft (wbg) und die Autorinnen und Autoren, 303 Seiten Broschur, mit zahlreichen Essays und Abbildungen. - ISBN 978-3-86102-226-8 (Museumsausgabe), 978-3-8062-4445-8 (Verlagsausgabe).
32,- €
 
Weitere Informationen:  www.wbg-wissenverbindet.de