Zwangsarbeit, Blut und Schmerz

Clint Smith – „Was wir uns erzählen. Das Erbe der Sklaverei - Eine Reise durch die amerikanische Geschichte“

von Johannes Vesper

Zwangsarbeit, Blut und Schmerz
 
Clint Smith - Was wir uns erzählen
 
Alles andere als ein Handbuch amerikanischer Geschichte! Clint Smith, geb. 1988, Journalist, Autor aus New Orleans, hat, wie im Titel angekündigt, tatsächlich die amerikanische Geschichte als Reisender und Besucher von acht geschichtsträchtigen Orten und Gedenkstätten dargestellt, und der Leser begreift,  daß Sklaverei die ökonomische wie kulturelle Basis der USA bildet. Als Quellen benutzte er u.a. Gespräche mit den Fremdenführern dieser Gedenk-Orte, stützt sich nicht nur auf seine eigenen Recherchen und Beobachtungen sondern vor allem auch auf das Federal Writers Project, in welchem 2300 Berichte ehemals versklavter Menschen und über 500 Schwarz/Weiß-Fotos dokumentiert sind. Er erzählt Familiengeschichten (auch seine eigenen) und möchte das kollektive Verständnis für den Zusammenhang zwischen Sklaverei, Rassismus, Gewalt und Armut in den USA wecken, vergißt dabei nicht, daß hinter der Geschichte der Sklaverei die der indigenen Völker Amerikas in ähnlicher Weise gewürdigt werden muß.
 
     Wer in New Orleans vom Washington Artillery Park am Ufer des Mississippi aus die Eleganz der Crescent City Connection, zweier paralleler Brücken aus Stahlträgern, bewundert und hinter sich das lebhafte pulsierende French Quartier spürt, der macht sich nicht klar,  daß nach dem Verbot der Sklaverei 1808 mehr als eine Million Sklaven über diesen Fluß nach New Orleans transportiert worden sind, um hier verkauft zu werden. Und obwohl 1827 auch in New York die Sklaverei komplett abgeschafft worden ist und der transatlantische Sklavenhandel verboten war, lebten um 1860 noch ca. 4 Millionen Sklaven in den USA. Die Verheißung der Unabhängigkeitserklärung vom 4.7.1776 - alle Menschen sind gleich - galt noch nicht für Sklaven (auch noch nicht für Frauen).
     Das Landgut Monticello bei Charlottesville (Virginia), heute Unesco Weltkulturerbe, bewohnte Thomas Jefferson, der die Unabhängigkeitserklärung mit verfaßt hat, und der es bewirtschaftet hat mit mehr als 600 Sklaven. Er hielt „Schwarze Menschen in ihren körperlichen und geistigen Gaben für unterlegen“, was ihn aber nicht davon abgehalten hat, mit Sally Hemmings, der jungen Sklavin seiner verstorbenen Frau Martha eine sexuelle Beziehung einzugehen und sechs Kinder zu zeugen. Die Geschichte wollten die Amerikaner lange nicht glauben. Sie kann aber nach DNA-Analysen exhumierter Nachfahren (1996!) nicht mehr bestritten werden. Inzwischen schämt man sich seiner und überlegt seine Statue aus dem New Yorker Rathaus zu entfernen.
Am Ufer des Mississippi westlich von New Orleans liegt die Whitney Plantation. Dort erinnern 25 Köpfe schwarzer Männer, auf silberne Spieße aufgespießt, an den großen Sklavenaufstand von 1811. Die revolutionären Ideen hatten aus Haiti geflohene Sklaven an die westlich von New Orleans gelegene German Coast gebracht. Sechzig Prozent der Bevölkerung dort waren damals versklavt. Zur Erinnerung: Der Staat Haitis war 1804 im Gefolge der Sklavenrevolution daselbst (seit 1791) gegründet worden und die französischen Truppen waren durch den Kampf auf Haiti so geschwächt,  daß Napoleon sein Heil im Rückzug bzw. Verkauf der Kolonie Louisiana an die USA gesehen hatte (1803).
     Zurück zum Aufstand von 1811: Er wurde dank einseitig vorhandener Schußwaffen schnell niedergeschlagen und mit abgeschlagenen, auf Stangen aufgespießten Sklavenköpfe wurde vor weiterer Teilnahme am Aufstand gewarnt.  Daß auf dieser Plantage ständig um die 50 Sklavinnen nur zur Zucht und Produktion neuer Sklaven gehalten wurden ist so ja kaum zu glauben, aber mit einer Literaturangabe im Buch hinterlegt. Die Ma von Julia Woodrich, geb. 1851, „hatte 15 Kinder und keines von demselben Pa. Jedes Mal, wenn sie verkauft wurde bekam sie einen neuen Mann. …Ein Junge war das Kind vom Bruder unserer Missis“.
Das Angola Prison, eines der ältesten Hochsicherheitsgefängnisse in Louisiana, besucht der Autor mit Norris, der 27 Jahre in dem Gefängnis verbringen mußte. Der hoch emotionalen, bewegenden Auseinandersetzung mit dem Strafvollzug ist zu entnehmen, aus welcher Tradition heraus George Floyd in Minneapolis bei seiner Festnahme umgebracht worden ist. Der Bericht des 17jährigen Schwarzen Jungen Willie von seiner Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl, die er beim ersten Mal überlebt hat, ist eigentlich unfaßbar.
     Beim Besuch des Blandford-Friedhofes kommt die Geschichte des amerikanischen Sezessionskrieges hoch. Dort werden 30.000 Soldaten geehrt, die für die Konföderation, also für den Erhalt der Sklaverei und der Unterdrückung der Schwarzen gekämpft, bzw. für den Erhalt weißer Vorherrschaft gemetzelt und geschlachtet haben. Die ungeheure Verehrung von Robert E. Lee, dem größten General dieser konföderierten Soldaten, manifestiert sich nicht nur in einer Unzahl von Denkmälern. Kann die dreihundertjährige Geschichte durch Sturz von Denkmälern bewältigt werden? 2017 wurden im Namen der Südstaatenflagge neun afroamerikanische Gläubige beim Gebet in ihrer Kirche in Charleston ermordet. „Sklaverei, Rassentrennung, Diskriminierung werfen einen langen Schatten“ (Obama), noch heute.
Haben die deutsche Philosophen wie Hegel etwa die Grundlagen gelegt für white supremacy und Sklavenhandel? In Dakar diskutiert Colin Smith mit den Mädchen einer Highschool über Texte von Immanuel Kant: „Die Menschheit ist in ihrer größten Vollkommenheit in der Race der Weißen. Die gelben Indianer haben schon ein geringeres Talent. Die Neger sind weit tiefer, und am tiefsten steht ein Teil der amerikanischen Völkerschaften“ (S. 533).
 
     Ob Clint Smith mit seinem geschichtlichen Reisetagebuch, seinen historischen Reisebeschreibungen, seine „oral history“, eine eigen Literaturgattung neu begründet? Jedenfalls ist das Ganze lebendig, nicht wortarm geschrieben und leicht zu lesen und sehr empfehlenswert. Im Anhang wird das Projekt erläutert, finden sich auf 17 Seiten zahlreiche Anmerkungen zum Text und das Register.
Das Werk, höchst informativ, interessant und kenntnisreich, läßt den Leser nachdenklich zurück. Menschenwürde, Gleichheit, Freiheit ist nicht nur ein Problem amerikanischer Geschichte (siehe auch hier). Krieg, zerbombte Städte, von russischen Soldaten ermordete Zivilisten in der Ukraine, Flucht und Migration mit seit Jahren bestehenden unsäglichen Lagern auf den griechischen Inseln(Lesbos), Vertreibung von unerwünschten Flüchtlingen an der EU-Ostflanke bilden 250 Jahre nach der Unabhängigkeitserklärung nach wie vor die dunkle Seite auch unserer aktuellen europäischen Geschichte und Wohlstandes.
 
Clint Smith – „Was wir uns erzählen. Das Erbe der Sklaverei - Eine Reise durch die amerikanische Geschichte“
Aus dem amerikanischen Englisch von Henriette Zeltmer-Shane.
© der deutschen Ausgabe Siedler Verlag, München 425 Seiten - ISBN 978-3-8275-0158—5
26,-€