Mündlich oder schriftlich?

Streit um die Tradierung von Volksliteratur

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Mündlich oder schriftlich?
 
Streit um die Tradierung von Volksliteratur
 
Von Heinz Rölleke
 
Bei Alters- und Herkunftsbestimmung vieler Texte gab und gibt es zwischen den Wissenschaftsdisziplinen seit je zwei Lager. Die einen behaupten, kein alter volksläufiger Text wie Volkslied, Sage oder Märchen sei ohne eine durchgängige mündliche Tradition auf uns gekommen, die andern, letztlich habe man sich solch alte Literaturtraditionen nur schriftlich vorzustellen. Daß es fast immer zwischen mündlich und schriftlich hin und her geht, war erst eine in jüngeren Jahren gewonnene, wohl zutreffendere Einsicht, die aber zur Zeit weniger vertreten wird. Zunächst faßte man etwa die Märchen als überwiegend mündlich tradiert auf - so die jungen Brüder Grimm in ihren Anfängen und die zum Teil darauf zurückgehende sogenannte mythische Schule, die beide jedes Motiv und jede Geschichte auf alte Mythen zurückführen wollten, die manchmal über tausend Jahre in verschiedenen Versionen von Mund zu Mund weiter erzählt worden seien. Die Brüder Grimm revidierten allmählich ihr anfängliche Position, als sie einsahen, daß eine Erzählung über längere Zeiträume unmöglich nur mündlich tradiert werden kann, sondern immer wieder einer (neuen) festen schriftlichen Fixierung bedarf. Dementsprechend nahmen sie ungescheut über sechzig Märchen aus schriftlichen Quellen in ihre Sammlung mit genauer Herkunftsangabe auf.
 
Gegenwärtig scheinen sich einige Vertreter mit ihrer auf ausschließlich schriftliche Überlieferungen bestehenden Ansicht wieder rigoros von solchen Einsichten abzukehren.
 
So hat man bei der neuerlichen Überarbeitung der ersten fünf Bände des Grimm'schen Wörterbuchs, welche die Brüder allein erstellt haben, sämtliche so originellen wie wertvollen Belege gestrichen, die Jacob Grimm zuweilen in Erinnerung an früher gehörte Wendungen eingebracht hatte. Man wollte nur noch schriftlich belegte Wörter als vertrauenswürdig bezeugte Spracheigentümlichkeiten gelten lassen.
 
Mir selbst erging es jüngst ebenso. Ich hatte in einen Kommentar zu meiner Volksliederedition eine Kindheitserinnerung eingebracht: Aus „Üb' immer Treu und Redlichkeit...“ über „Der Kaiser ist ein lieber Mann...“ lernten wir Schulkinder im Dritten Reich „Der Führer ist ein lieber Mann...“. Diesen Beleg nahm das Deutsche Volksliedarchiv, das ursprünglich gerade auf Fund und Bewahrung solcher Zeugnisse angelegt war,  in seine Sammlung zeitweise gesungener und anscheinend nur mündlich tradierter Lieder nicht auf und begründete das öffentlich damit, daß man dieser scheinbar unikaren Erinnerung selbst eines ausgewiesenen Volksliedkenners nicht trauen dürfe, da sich in keinem Archiv ein schriftlicher Beleg finde. Inzwischen hat man gefunden, da bei mehreren Archiven Meldungen mit Erinnerung an diese (nur mündlich!) tradierte Liedfassung eingesandt worden waren, die von einigen Archiven als wertvolle Zeitzeugen besonders gern aufgenommen worden sind. Da machte denn das Deutsche Volksliedarchiv einen Rückzieher: Obwohl auch diese Belege  - wie meine eigene Erinnerung - ausschließlich eine mündliche Tradition festhielten, wurde meine Erinnerung nun als seriös anerkannt und in die Archivbestände aufgenommen.
 
Einige Verfechter einer ausschließlich schriftlich bestimmten Traditionskette meinen, die erst in den Jahren von etwa 70 bis 100 n. Chr. (also etwa 50 bis 80 Jahre nach den geschilderten historischen Ereignissen) wohl auf jahrzehntelanger mündlicher Tradition beruhenden Texte zu Papyros gebrachten vier Evangelien des Neuen Testaments könnten nur durch verlorengegangene schriftliche Zeugnisse in Kenntnis geblieben sein.
 
Nach dem Muster so ungesicherter, lediglich auf Vermutungen basierender  Beweisführungen glaubt man auch die teils seit etwa tausend Jahren tradierten Märchen seien so gut wie ausschließlich schriftlich überliefert worden. Das aber ist für die Überlieferung vieler Märchentexte definitiv auszuschließen. Spätestens seit 1962 hätte man sich eine Besseren belehren lassen können durch Lutz Röhrichs eindrucksvoll belegte Traditionsketten für 24 Märchen und Sagen: „Erzählungen des späten Mittelalters und ihr Weiterleben in der Volksdichtung.“ Darunter ist auch Grimms bekanntes Märchen „Der alte Großvater und der Enkel“. Röhrich führt  fünfzehn Belege an. Fünf geben eindeutig Niederschriften nach mündlicher Überlieferung wieder. In der Regel stehen die Grimm'schen Fassungen in verschiedener Hinsicht im Mittelpunkt der Überlieferungsgeschichte, und so waren denn auch neben zehn Fassungen vor Grimm fünf neben oder nach Grimm  zu registrieren. Weiterhin belegen die schon um 1900 in mindestens achtzehn verschiedenen Sprachen nachgewiesenen Zeugnisse die weltweite Verbreitung des Textes. Inzwischen läßt sich die aufgestellte Traditionskette erheblich erweitern; hier sollen indes nur wenige der neuen Entdeckungen nachgetragen werden.
 
Die Frage, wie man in Familie und Gesellschaft mit den Greisen umgehen soll, scheint so alt wie die Menschheit zu sein und wird auch heute immer erneut diskutiert. Zeugnisse sind etwa das vierte der Zehn Gebote „Du sollst Vater und Mutter ehren“ oder der altrömische Pietas-Gedanke: Die geforderte Frömmigkeit zeigt sich in kindlicher Liebe und lebenslänglicher Dankbarkeit gegenüber den Eltern und einem allzeit pietätvollen Umgang mit den Alten. Das mußte im Lauf der Jahrhunderte immer erneut den jungen Generationen klargemacht, sozusagen eingehämmert werden. In den Literaturgeschichten aller Länder finden sich kontinuierlich entsprechende Zeugnisse.
 
So ist es kein Zufall, daß der erste Beleg mit märchenhaften Zügen in Parabelform sich in einem Predigtmärlein des 1444 verstorbenen Franziskanerpredigers Bernhardinus von Siena (in schlichtem Kirchenlatein) findet. Die Korrektur der harten Gesinnung seines Vaters gegenüber dem Großvater erreicht der Enkel damit, daß er sich seinerseits für eine ähnliche Haltung seinen Eltern gegenüber rüstet, wenn diese einst alt geworden sind. Der Prediger erklärt das Verhalten des Kindes als „a Deo inspiratus“, woraufhin der Vater zur Tugend der Pietas zurückfindet („se correxit“). 1572 gibt Nicolaus Florus im Elsaß die erste deutschsprachige Fassung; auch hier wird dem Vater durch das Verhalten seines Kindes „das Hertz also gerühret“, so daß er es „in Besserung gestellt.“ Zwar sind die Motive und Requisiten in den beiden alten Fassungen so gut wie identisch, woraus aber schwerlich zu schließen ist, daß jemand in Straßburg einen über 130 Jahre älteren lateinischsprachigen Text als seine Vorlage benutzt haben könnte; vielmehr ist eine länderübergreifende mündliche Tradition über den Zeitraum von vier Generationen als sicher anzunehmen, aus der Florus 1572 geschöpft haben dürfte.
 
Johann Heinrich Jung-Stilling, der seinerzeit in Straßburg studierte, veröffentlichte in seiner Lebensgeschichte 1777 den altüberlieferten Text, den die Brüder Grimm 1812 in ihr Märchenbuch aufnahmen. Jung beruft sich ausdrücklich auf mündliche Tradition, die er in seiner siegerländischen Heimat persönlich gehört haben will; tatsächlich gibt er aber wohl eine seinerzeit in der oral tradition in Straßburg kursierende Geschichte wieder, die noch immer stupende Übereinstimmungen mit der elsässischen Fassung des Jahres 1572 zeigt. Die Brüder Grimm vertrauten Jungs Berufung auf mündliche Tradition als seine Quelle mit Recht, denn sie selbst kannten entsprechende hessische Traditionen. Sie merkten an: „So erzählt Stilling das Märchen in seinem 'Leben', wie wir es gleichfalls oft gehört haben und wie es in dem Volkslied aus dem Kuhländchen (Josef George Meinert) vorkommt.“ Der Hinweis auf Meinerts Liedersammlung (1817) nach mündlichen Traditionen im Mährischen führt auf die Spur eines weiteren Beweises für die erstaunlich lange und breitgefächerte mündliche Überlieferung. Die Aufzeichnung eines Liedes vom Großvater und seinem Enkel (schon 1808 findet sich die Geschichte nach einer alten Handschrift unter dem Titel „Das vierte Gebot“ in „Des Knaben Wunderhorn“ in Gedichtform) im Kuhländchen gibt in frappanter Übereinstimmung einen Text wieder, den der elsässische Dichter Michael Moscherosch 1641 offenbar nach mündlichen Traditionen in seiner Heimat verfaßt hatte. Das 14-strophige Barockgedicht erschien 1643 in seiner Schrift „Insomnis. Cura. Parentum“ und wurde in Ausschnitten in der mündlichen Tradition  im Elsaß früh und lange rezipiert und vor dort aus verbreitet, so daß es Meinert noch 175 Jahre hernach im Kuhländchen aufzeichnen konnte.
 
Wie erstaunlich genau Teile des durchgereimten(!) Moscherosch-Gedichts über Generationen tradiert wurden, kann ein Vergleich mit Jung-Stillings elsässischer Aufzeichnung belegen:
 
            Moscherosch (1643)                                        Jung-Stilling (1778)
           
            Das Kind sprach: Lieber Vatter mein                Ho! sagte das Kind 
            Wan dan auch ich groß werde sein                  ich mache ein Trögelein.
            So wil ich machen eüch ein Trögelein              daraus sollen Vater
            Wie jhr Meinem Groß Vätterlein,                      und Mutter essen.
            Drauß jhr auch solt Essen.                               Wenn ich groß bin.
 
Als Resümee aus diesen Beispielen darf man wohl festhalten, daß die Tradition von Volksliteratur in einem ständigen Wechsel von schriftlich fixierten und bearbeiteten und mündlich rezipierten und veränderten Fassungen statthat. Eine lange mündliche Tradition bedarf erfahrungsgemäß immer wieder einer schriftlichen (Neu)Fassung, die dann wieder die Basis für erneut lange Jahre mündlicher Wiedergaben ist. Das ist auch in der jüngeren Literaturgeschichte nachweisbar.
 
Das „Dornröschen“-Märchen gelangte um 1808 an Jacob Grimm, der eine ihm wohl in hessischem Dialekt von Marie Hassenpflug erzählte Geschichte nach mündlicher Tradition niederschrieb. Das beweist eindeutig Jacob Grimms lakonische Anmerkung zu seiner Niederschrift „Mündlich“ wie ebenso Wilhelm Grimms Zuweisung im KHM-Handexemplar an „Marie“. Völlig unhaltbar ist die Meinung eines namhaften Volkskundlers, der meint, mit der in dieser Form für alle erzählenden Beiträger üblichen Notiz sei nur darauf hingewiesen, daß Marie Hassenpflug die Grimms auf Charles Perrault aufmerksam gemacht hätte. Bei der Grimm'schen Niederschrift handelt es sich um den ersten Teil des Perrault-Märchen „La belle a bois dormant“. Seinen Weg von 1697 bis 1808 kann man ausnahmsweise ziemlich genau verfolgen. 1736 war eine Madame Debely aus der französischsprachigen Schweiz nach Hanau gekommen und hatte dort 1739 einen aus Frankreich geflohenen Hugenottenpfarrer geheiratet. Als deren Tochter starb, nahm sie ihr früh verwaistes vierjähriges Enkelkind bei sich bis zu deren Heirat mit dem Hessen Johannes Hassenpflug auf und erzog das Mädchen geradezu rigoros ganz im französischen Geist, wobei zweifellos auch französische Märchen eine große Rolle spielten. Diese Marie Magdalena hat ihre Tochter Marie Hassenplug (geboren 1788) natürlich auch mit den Märchen Perraults bekannt gemacht (fraglich, ob noch in französischer oder schon in deutscher Sprache).
 
Erst einige Zeit nach seiner Niederschrift fiel Jacob Grimm die Verwandtschaft mit der Buchfassung des französischen Autors auf, so daß er unter dem Text anmerkte: „Dies scheint ganz aus Perrault“.
 
Jacob Grimms Niederschrift geht demnach keinesfalls auf Perrault zurück, sondern auf den Vortrag der Marie Hassenpflug. Diese erzählte „Dornröschen“ nach der im Hessischen seit zwei bis drei Generationen verbreiteten Variante, die ihr entweder in Kassel oder zuvor schon in Hanau bekannt geworden war (sie gehört zu den Beiträgerinnen, von denen in der KHM-Vorrede von 1812 die Rede ist: „Alles ist […] in Hessen und den Main- und Kinziggegenden in der Grafschaft Hanau  nach mündlicher Überlieferung gesammelt“). Diese Urfassung bestätigte Grimms anfängliche Meinung, solche Geschichten seien Jahrhunderte hindurch mündlich tradiert worden, denn sie beruhten auf Mythen, so wie hier eindeutig Motive aus der germanischen Siegfried-Tradition nachzuweisen sind. Dem ist nun nicht so, sondern die Grimm'sche „Dornröschen“-Urfassung geht im Kern auf Perrault zurück. Entscheidend für die Charakterisierung „nach mündlicher Tradition“ ist nach dieser Erkenntnis, wie sehr der Perrault-Sage im Lauf von über hundert Jahren in der mündlichen Überlieferung (etwa in Hessen) verändert wurde: Um die Hälfte gekürzt und in vielen Einzelheiten verbürgerlicht, stellt er eine neue und selbständige Variante der alten Erzählung vor. Anonyme Erzähler haben diese und andere Geschichten so sehr verändert, daß die Grimms später aus diesem Grund den Titel „Volkserzählung“ rechtfertigten. Der „Volksgeist“ erweise sich dergestalt immer erneut als schöpferisch.
 
Die Grimms konnten das fast wörtlich aus Jung-Stillings Buch übernommene Kunstmärchen vom Großvater und Enkel einer ursprünglich mündlichen Tradition zuschreiben, weil der Autor wohl mit Recht behauptet, er habe (wie die Grimms selbst auch!) in seiner Jugend diese Geschichte erzählen hören. Wahrscheinlich kannten die Grimms eine der vorausliegenden dichterischen Fassungen der Erzählung, wie sich das ja auch für „Dornröschen“ ergeben hatte; das hinderte sie aber keineswegs, ihre Fassung als „Mündlich“ zu reklamieren. In ähnlicher Weise gingen sie auch davon aus, daß märchenhafte Binnenerzählungen in Kunstdichtungen des 16. und 17. Jahrhunderts auf mündlichen Traditionen beruhen und also durchaus in ihre Sammlung gehörten.
 
Angesichts dieses sich eigentlich von selbst verstehenden Hin und Her mündlicher und schriftlicher Überlieferung kann die eingangs gestellte Frage „mündlich oder schriftlich?“ ganz sicher mit der Antwort „mündlich und schriftlich“ beschieden werden.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022