Der Rabe und der Fuchs

„Verdammte Schmeichler“: Eine Fabel Lessings

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Der Rabe und der Fuchs
 
„Verdammte Schmeichler“: Eine Fabel Lessings
 
Von Heinz Rölleke
 
Im Jahr 1759 veröffentlichte der 30-jährige Gotthold Ephraim Lessing in seinem Buch „Fabeln“ eine seit über 2000 Jahren überlieferte Geschichte in veränderter Gestalt. Der junge Dichter setzte seinerzeit eine neue Gattungsdefinition durch und füllte sie mit nicht weniger als 90 Texten sogleich mit Leben. In einem Aufsehen erregenden Literaturstreit wurden  ihm Plagiate vorgeworfen, wogegen er sich wie gewohnt polemisch, jedenfalls aber brillant rechtfertigte. Zum einen hatte er gegenenfalls bei den Übernahmen älterer Fabeln stets direkt unter den jeweiligen Titeln gewissenhaft genaue Quellenhinweise gegeben und damit die Leser gleichsam zu Vergleichen zwischen den alten und den durch ihn neu geformten Texten eingeladen; zum anderen hat er sich in sympathischer Bescheidenheit später für sein Verfahren gerechtfertigt. Er vergleicht seine Neufassungen alter Fabeln mit einem Einschmelzen des Stoffes, aus und mit dem er neue Kunstwerke schafft, und er gibt offen zu, wie viel er bei diesem Verfahren der alten Fabelüberlieferung verdankt:
 
       Ich würde so arm, so kalt, so kurzsichtig sein, wenn ich nicht        
einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu borgen, an      
fremdem Feuer mich zu wärmen und durch die Gläser der Kunst             
mein Auge zu stärken.
 
Diese Haltung verwirklichte er besonders eindrucksvoll in seiner Fabeldichtung vom Raben und Fuchs, zu der er als antike Quellen Aesop und Phaedrus und deren Texte in griechischer und in lateinischer Fassung nennt.
 
            Der Rabe und der Fuchs
 
     Ein Rabe trug ein Stück vergiftetes Fleisch, das der erzürnte Gärtner für die Katzen seines Nachbars hingeworfen hatte, in seinen Klauen fort.
     Und eben wollte er es auf einer alten Eiche verzehren, als sich ein Fuchs herbeischlich und ihm zurief: Sei mir gesegnet, Vogel des Jupiters! - Für wen siehst du mich an? fragte der Rabe. - Für wen ich dich ansehe? erwiderte der Fuchs. Bist du nicht der rüstige Adler, der täglich von der Rechten des Zeus auf die Eiche herabkömmt, mich Armen zu speisen? Warum verstellst du dich? Sehe ich denn nicht in der siegreichen Klaue die erflehte Gabe, die mir dein Gott durch dich         
zu schicken noch fortfährt?
     Der Rabe erstaunte und freuete sich innig, für einen Adler gehalten zu werden. Ich muß, dachte er, den Fuchs aus diesem Irrtume nicht bringen. - Großmütig dumm ließ er ihm also seinen Raub herabfallen und flog stolz davon.
     Der Fuchs fing das Fleisch lachend auf und fraß  es mit boshafter             Freude. Doch bald verkehrte sich die Freude in ein schmerzhaftes Gefühl; das Gift fing an zu wirken, und er verreckte.
     Möchtet ihr euch nie etwas anders als Gift erloben, verdammte Schmeichler!
 
Wie Lessing selbst angibt, geht seine Neufassung der alten, weitverbreiteten Tierfabel von der dem Aesop (6. Jahrhundert v. Chr.) zugeschriebenen Version aus. Ein Vergleich läßt die leichte Veränderung einiger Motive und vor allem die neue Intention (was ist das Fabula docet, was kann man aus dieser Fabel lernen) leicht erkennen.
 
Rabe und Fuchs
 
     Ein Rabe hatte einen Käse gestohlen, flog damit auf einen Baum und wollte dort seine Beute in Ruhe verzehren. Da es aber der Raben Art ist, beim Essen nicht schweigen zu können, hörte ein vorbeikommender Fuchs den Raben über dem Käse krächzen. Er lief eilig hinzu und begann den Raben zu loben: „O Rabe, was bist du für ein wunderbarer Vogel! Wenn dein Gesang ebenso schön ist wie dein Gefieder, dann sollte man dich zum König aller Vögel krönen!“
     Dem Raben taten diese Schmeicheleien so wohl, daß er seinen Schnabel weit aufsperrte, um dem Fuchs etwas vorzusingen. Dabei entfiel ihm der Käse. Den nahm der Fuchs behend, fraß ihn und lachte über den törichten Raben.
 
       Lessing bietet in einem einzigen Satz die detailreiche Vorgeschichte zur Fabelhandlung: Die offenbar die Gärten schädigenden Katzen, die strafbare mörderische Reaktion des Gärtners, der Raub des Raben. Diese Einleitung erfüllt das von Lessing aufgestellte Postulat unbedingter Kürze für jede Fabel ideal. Aus dem Käse macht er ein Fleischstück, das besser zu den Verzehrgewohnheiten von Katze, Rabe und Fuchs stimmt. Der Aesop'sche Baum wird als alte Eiche definiert, weil diese einen traditionellen Platz in den Mythen um Jupiter hat, auf die der listige Fuchs abhebt. Bei Aesop ist schließlich die Gabe des Raben an den ihm schmeichelnden Fuchs auf pure Dummheit zurückzuführen: Er war keineswegs gewillt, dem Fuchs seine Beute zu überlassen, vielmehr verliert er sie, weil er beweisen will, daß die Schmeicheleien des Fuchses der Wahrheit entsprechen: Bei Beginn seines Gesangs öffnet er den Schnabel und die Beute entfällt ihm. Der Listige (Fuchs) triumphiert über den Dummen (Raben). Ähnlich wie bei dem Wechsel von Käse zu Fleisch ist Lessing auch hier wieder konsequent präzise: Der Rabe hat das Fleisch offenbar in seiner „Klaue“, worauf der Fuchs listig Bezug nimmt. Ganz entscheidend für Lessings Umformung ist allerdings der Schluß der Handlung: Während der Fuchs bei Aesop der absolute Sieger bleibt, „verreckt“ er nun am Gift, das er sich zugleich mit dem Fleisch erlogen hat. Auch der Schlaue kann nicht alles richtig voraussehen; er ist nicht wie bei Aesop der unbedingt Erfolgreiche und erst recht nicht der zuletzt immer Glückliche. Die Kritik am Dummen, der auf plumpe Schmeicheleien hereinfällt, bleibt bei Lessing vergleichsweise milde, die am Schmeichler ist dagegen ungewöhnlich scharf: Sein temporärer Sieg, der sich im listig erbeuteten  Fleischstück manifestiert, ist a priori durch die Art seines Erwerbs vergiftet. Bei Lessing empfängt er seine gerechte Strafe für die verlogene Schmeichelei. Und daß es dem Dichter auf diese Pointe ankommt, erweist seine drastische Verfluchung aller Schmeichler im Schlußsatz, der an die Stelle des traditionellen Fabula docet tritt. Es will scheinen, als ob den sonst so besonnenen und kühl rationalen Dichter sein Zorn auf alle Formen von Schmeichelei, unter denen er vielleicht selbst zu leiden hatte, zu seinem abschließenden Fluch hingerissen hätte.
           
       Insgesamt läßt sich die aufklärerische Lehre aus dieser Fabel ziehen, daß jede Schmeichelei auf Lügen und Eigennutz basiert, die für alle Beteiligten böse Konsequenzen nach sich zieht.
Bemerkenswert ist an der neuen Fassung der Fabel nach über 2000 Jahren die Wertung der verschiedenen Untaten: Bei Aesop wird allein der Rabe wegen seiner Dummheit  - weniger als für seinen Diebstahl -  gestraft. Bei Lessing bleiben die den Garten schädigenden Katzen und der überreagierende Gärtner völlig ungeschoren; der Rabe wird sich durch den gerechten Verlust seiner Jagdbeute betrogen fühlen, kommt jedoch heil davon. Auf den Fuchs aber fällt die ganze Wucht seiner lügnerischen Schmeicheleien zurück. Er verreckt mit Recht und wird am prononcierten Ende der Fabel  verdammt und verflucht. Verblüffend ist, daß das von den meisten Lesern wohl eher als kleines oder gar verzeihlich gewertete Laster der Schmeichelei so gnadenlos und geradezu wütend als Spitze aller Vergehen gewertet wird. Man hat das Gefühl, als hätten einschlägige Erfahrungen den immer aufrechten Lessing zu diesem überraschenden Verdammungsurteil geführt.
       Wie dem auch sei. Lessing war in der grimmigen Verurteilung jeder Form von verlogener Schmeichelei in der allerbesten Gesellschaft. 650 Jahre vor seiner Fabeldichtung verdammte Dante im 19. Gesang des ersten Teils seiner „Divina commedia“ alle Schmeichler ins „Inferno“. Dort büßen sie in einer eigenen Sektion, in ihrem bis zum Hals reichenden Kot, schleimige, schmierige Gesellen:
 
            Sah ich viel Leut' in tiefem Kote stecken,
            Wie in dem Abort er zu finden ist.
            Ich forscht' und sah ein Haupt voll Scheiße
            […]
            „Alessio Interminei aus Lucca heißest du“
            Und er, die Stirn sich schlagend, rief mir zu:
            „Mich stürzte Schmeichelei hinab zur Hölle,
            Die meine Zunge übte sonder Ruh!“
 
„Qua giù, 'hanno sommerso le lusinghe/ ond' io non ebbi mai la lingua stucca.“ Die von Lessing „verdammten Schmeichler“ haben schon bei Dante in ewiger Verdammnis ihren Lohn gefunden.
 
 
© 2022 Heinz Rölleke für die Musenblätter