„Schimpf und Ernst“

Ein Bestseller wird 500 Jahre alt

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„Schimpf und Ernst“
 
Ein Bestseller wird 500 Jahre alt
 
Von Heinz Rölleke
 
Im Jahr 1522, als Luther auf der Wartburg seine bahnbrechende Übersetzung des Neuen Testaments abgeschlossen hatte, erschien in Straßburg ein Buch des Franziskaners Johannes Pauli, das dieser bereits 1519 vollendet hatte: „Schimpf vnd Ernst heiset das buch mit namen durchlaufft es d' welt handlung mit ernstlichen und kurtzweiligen exemplen, parabolen vnd hystorien.“ In 90 Kapiteln werden Geschichten geboten, in denen die Welt durchlaufen wird – ein Versprechen, das auf den um 1300 erschienenen Bestseller „Der Renner“ des Hugo von Trimberg verweist, denn wie dieser möchte auch Paulis Werk die ganze Welt 'durchrennen'; das Ergebnis wird in 693 Geschichten geboten, von denen 462 Schwankhaftes („Schimpf“, soviel wie Scherz), 231 Ernsthaftes erzählen. 
 
Die Entstehung des Buches ist vielfach durch den seinerzeit in Blüte stehenden elsässischen Humanismus vielfach beeinflußt. Pauli gab die berühmten Predigten des Geiler von Kaisersberg 1520 in deutscher Übersetzung heraus („Narrensschiff aus Latein in Deutsch bracht“), die ihrerseits stark durch Sebastian Brants „Narrenschiff“ beeinflußt sind. Damit war für Pauli eine Brücke zu den bekanntesten Sammelwerken religiöser mittelalterlicher Literatur gegeben: Für sein zentrales Buch schöpfte er vor allem aus dem drei Jahrhunderte zuvor entstandenen „Liber miraculorum“ des Caesarius von Heisterbach, aus der „Legenda aurea“ des Johannes Voragine sowie aus den „Gesta Romanorum“. Aus der zeitgenössischen Literatur nahm er vor allem Texte Geilers in seine Schwanksammlung auf; eigene Erlebnisse hat er nur in wenigen Kurzerzählungen wiedergegeben. Seine der Umgangssprache angenäherte Diktion machte das Buch leicht rezipierbar. Das Werk wurde zu einem weit bekannten Sammelbecken älterer Literatur. Seine Auswahl wollte in erster Linie Lehrhaftes ernst- und scherzhaft überliefern, auch um damit zu den seinerzeit beliebten Predigt-Märlein beizutragen; dafür sprechen vor allem die den meisten Geschichten nachgestellten moralischen Nutzanwendungen. Er selbst hat sich eindrucksvoll als unbedingter Vertreter des belehrenden Schrifttums bekannt:
 
            Du solt nit vf hören lernen, der letzt tag deins studierens sol sein der       
            letzt tag deins lebens. Darumb sprach einer vff ein mal, wan ich   
            schon ein fuß in dem grab het vnd den andern noch hie uß, noch so         
            wolt ich lernen.
 
„Schimpf und Ernst“ wurde indes sofort überwiegend als willkommene Unterhaltungsliteratur aufgefaßt, ein Werk, das die seit Brant und Murner ungemein populäre Narrenliteratur abschloß. Wie seine großen Vorbilder erzählt er kunstvoll und jedenfalls humorvoller als diese. Zugleich ist er das erste große Beispiel für die nun aufkommende Schwankliteratur. Paulis Buch wurde für lange Zeit  die  Schwanksammlung schlechthin, aus der sich Leser und Dichter vier Jahrhunderte hindurch reichlich und gern bedienten. Das Buch selbst blieb bis heute einer der wenigen Bestseller im Verlauf der deutschen Literaturgeschichte und ist als Vermittler der einschlägigen Literatur des Mittelalters und des seinerzeitigen Humanismus gar nicht zu überschätzen. Seine geradezu ungeheuerliche Wirkung zeigt sich in der kontinuierlichen Rezeptionsgeschichte. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts erschienen mehr als 60 Neuauflagen, die zahlreiche Schriftsteller der Zeit wie etwa Jörg Wickram oder Martin Montanus erheblich beeinflußten. Auch frühe Übersetzungen ins Lateinische, Französische, Dänische oder Niederländische trugen zu seiner europäischen Bekanntheit bei.
 
Hans Sachs hat für nicht weniger als 180 seiner Dichtungen Pauli als Quelle angegeben. Der große Barockdichter Grimmelshausen setzt ihn noch 1672 ohne Weiteres als allbekannt voraus: „Einer erzählte aus 'Schimpf und Ernst'.“ Hans Sachs hatte Anfang des 16. Jahrhunderts  neben vielen andern seine Verserzählung „Der Mönch mit dem Kapaun“ nach Pauli (Schimpf Nr. 58) gestaltet, die ungezählte Nachahmer fand. Die Brüder Grimm nennen noch drei Jahrhunderte später in ihren Anmerkungen zu drei ihrer Märchen Paulis Sammlung als Parallelquelle. Wenig später übernahm Ludwig Aurbacher viele Texte Paulis für seine ungemein populären Nacherzählungen im „Volksbüchlein“ (1827/29) und hielt sie damit in der lebendigen Überlieferung.
 
Man könnte das Werk Paulis in der Literaturgeschichte mit einem Trichter vergleichen: Es werden die wichtigsten mittelalterlichen Texte im oberen Teil versammelt; als Extrakt werden die Geschichten an kommende Generationen weitergegeben und verhelfen den moderneren Nachdrucken in mehr oder weniger veränderter Gestalt zu Ansehen und Ruhm. Die frühe Germanistik half durch zwei vorzüglich kommentierte Editionen der Fassung von 1522 zu erweiterter Wertschätzung: Hermann Österley (1866) und Johannes Bolte (1924).
 
Für dauernd bewahrt und in aller Welt bekannt bleiben zwei Erzählungen Paulis dank ihrer Aufnahme in die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, die in weit über hundert Sprachen übersetzt, diese Texte zu einem Stück Weltliteratur machten. Beide Texte finden sich schon in der Erstausgabe von 1815, der Schwank „Die drei Faulen“ mit der Herkunftsangabe „Schimpf und Ernst Cap.243“, die drastische Moralerzählung „Der undankbare Sohn“ mit dem Hinweis „Aus Schimpf und Ernst Kap. 413.“ Pauli konnte sich auf eine reiche Überlieferung der Geschichte seit dem 11. Jahrhundert stützen unter anderen  von Caesarius  von Heisterbach im frühen 13. Jahrhundert und Geiler von Kaisersberg im Jahr 1517. Wie weit die von Pauli bearbeiteten Stoffe in der deutschen Tradition verbreitet waren, läßt sich immer wieder an überraschenden Funden beweisen (vgl. Brentanos Bearbeitung des Schwanks „munich mit dem kappaun“; Frankfurter Brentano-Ausgabe 9.3, 1978, S. 874). Die Brüder Grimm schätzten Pauli sehr; sie besaßen sein Hauptwerk in den Nachdrucken von 1550 und 1553. Durch eine Synopse kann leicht verdeutlicht werden, wie die Brüder Grimm ihre Quelle (hier nach der Edition Boltes) verändert haben.
 
            Einer trug ein Krot am Antlitz                  Der undankbare Sohn
 
            Ein Vatter het seinem Son ein Weib         Es saß einmal ein Mann mit seiner Frau vor
            geben und in versorgt. Uf einmal             der Haustür, und sie hatten ein gebratenes Huhn
            kam er für sein Suns Thür, da saß           vor sich stehen und wollten das zusammen
            er und aß und het ein gebraten Hun        verzehren. Da sah der Mann, wie sein alter Vater
            vor im. Und da sie horten, das es            daherkam, geschwind nahm er das Huhn und
            sein Vatter was, da namen sie das          versteckte es, weil er ihm nichts davon gönnte.
            gebraten Hun und verbargen es.             Der Alte kam, tat einen Trunk und ging fort. 
            Da der Vatter ein Trunck gethet, da         Nun wollte der Sohn das gebratene Huhn wieder
            gieng er wider hinweg.                             auf den Tisch tragen, aber als er danach
                                                                             griff, war es eine große Kröte geworden, die
            Und da er hinweg kam, da gieng der       sprang ihm ins Angesicht und saß da und ging
            Sun über das Kenserlin wider über          und ging nicht wieder weg; und wenn sie
            den Tisch tragen, da was ein grose         jemand wegtun wollte, sah sie ihn giftig an,
            Krot daruß worden und sprang im           als wollte sie ihm ins Angesicht springen, so daß
            in das Angesicht. Die mocht im               keiner sie anzurühren getraute. Und die Kröte
            nieman hinweg thun, so sah sie in          mußte der undankbare Sohn alle Tage füttern,
            so krum an, als wolt sie im in sein           sonst fraß sie ihm aus seinem Angesicht; und
            Angesicht springen, und wan man ir       also ging er ohne Ruhe in der Welt hin und her.
            nichts zu essen gab, so fraß sie dem       
            uß seinem Angesicht, und gieng also      
            in der welt hin und her. Hindennach      
            ist ein heiliger Mensch gewesen, der
            in gesunt macht durch sein Gebet.   
 
In dieser moderat modernisierten Bearbeitung wurde und blieb die Pauli'sche Moralerzählung in den vergangenen zweihundert Jahren weltbekannt. Das Märchen „Der undankbare Sohn“ zeigt durchgängig ähnliche Tendenzen wie andere Grimm'sche Überarbeitungen gedruckter Quellen: Es finden sich keine gravierende Änderungen an der Substanz des Quellentextes, dessen Eingangssatz allerdings ersatzlos gestrichen wurde. Damit wird die Ausgangssituation auf eine allgemeine Ebene gehoben: Es geht für alle Probleme zwischen den Generationen um das Gesetz der antiken Pietas und des Vierten Gebots (wie in Grimms Märchen „Der alte Großvater und der Enkel“). Die Grausamkeit der Bestrafung ist bei Grimm abgeschwächt, während die bei Pauli im unerwarteten Schlußsatz berufene Erlösung nicht dem Charakter und der Intention einer warnenden Moralerzählung entspricht und daher bei Grimm weggefallen ist. Der undankbare Sohn wird hier lebenslänglich gestraft und erleidet das Schicksal des Ewigen Juden.
 
Viele Geschichten aus „Schimpf und Ernst“ sind auch noch fünf Jahrhunderte nach ihrer Entstehung in vielfachen Formen und  Abwandlungen präsent geblieben und werden es sicher auch in Zukunft sein.
 
 
© 2022 Heinz Rölleke für die Musenblätter