hopp oder topp?

Die Märchensammlung der Brüder Grimm: Wie bekannt war sie zu Lebzeiten der berühmten Autoren?

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
hopp oder topp?
 
Die Märchensammlung der Brüder Grimm:
Wie bekannt war sie zu Lebzeiten der berühmten Autoren?
 
Von Heinz Rölleke
 
Die Wissenschaft und das Lesepublikum beantworteten die hier im Titel gestellten Fragen diametral verschieden. Ohne sich groß um die Facta und Realia zu kümmern, glaubte die Mehrheit, die Grimm'schen „Kinder- und Hausmärchen“ (KHM) seien schon immer ein literarischer Erfolg ersten Ranges gewesen, während eine Minderheit mit Blick auf die anfängliche Unverkäuflichkeit des Buches und die teilweise massive Kritik der Germanisten, Schriftsteller und Erzieher geneigt war, die Sammlung von ihrem ersten Erscheinen im Jahr 1812 bis zur letzten, von Wilhelm Grimm betreuten (siebten) Auflage im Jahr 1857 eher als einen Flop zu werten. Daß ihm seit Jacob Grimms Tod im Jahr 1863 ein weltweiter Siegeszug beschieden war und das Märchenbuch bis heute das meist aufgelegte, am weitesten verbreitete, allseits bekannteste, in mehr als hundert Sprachen übersetzte deutschsprachige Buch wurde und blieb, war allerdings nicht zu leugnen und wurde mit Recht allgemein so gewertet.
            Ich habe 1985 die Frage zu beantworten gesucht, wie es denn wirklich um die Rezeption der Grimm'schen Märchen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bestellt war. Mein Resümee wurde bis heute allenthalben anerkannt und von vielen Märchenforschern nachgesprochen; jedenfalls hat in vierzig Jahren niemand widersprochen, vielmehr gab es von allen Seiten ausnahmslos Zustimmung:
           
       Nachdem den Anfängen der KHM-Publikationen (der ersten und zweiten Auflage von 1812/15 und 1819)
       kein sonderlicher  Erfolg beschieden war, wurde das Buch ab der dritten Auflage von 1837 zu einem Bestseller,
       so daß es etwa alle drei Jahre neu aufgelegt werden konnte. Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum einen erwies
       sich der Verlagswechsel als günstig; zum anderen hatte der Erfolg der Kleinen Ausgabe der KHM von 1825
       allmählich auch Neugierde auf die Große Ausgabe geweckt.
 
Im Jahr 1837 erregte der Protest der „Göttinger Sieben“ und die daraufhin erfolgte Amtsenthebung der Brüder Grimm große Aufmerksamkeit und Anteilnahme, die sozusagen auch dem beliebtesten Buch der Grimms entgegen gebracht wurde. Wider die ursprüngliche Erwartung waren die zuvor im gleichen Jahr von dem neuen Verleger in einer Stückzahl von 1000 aufgelegten KHM in knapp drei Jahren vergriffen, so daß schon 1840 eine vierte Auflage erscheinen konnte, die nach weiteren drei Jahren ebenfalls ausverkauft war. All das sind Zeugnisse für einen plötzlichen Durchbruch, was die Bekanntheit der KHM und die Steigerung der Verkaufszahlen betrifft. Waren in den 25 Jahren zwischen 1812 und 1837 insgesamt um die 2000 Exemplare abgesetzt worden (das heißt im Durchschnitt pro Jahr 80), so waren es jetzt in den 20 Jahren von 1837 bis 1857 etwa 5000 (das heißt im Durchschnitt pro Jahr 250) - eine Steigerung um etwa 300%. Daß der neue Verleger die dritte KHM-Ausgabe, wohl im Einvernehmen mit Wilhelm Grimm, in der relativ kleinen Stückzahl von 1000 auflegte, hatte gute Gründe und ist ohne Weiteres verständlich. Bis Anfang 1837 war das Buch alles andere als ein Verkaufserfolg, zumal der frühere Verleger immer wieder auf unverkäuflichen Restbeständen der beiden Auflagen sitzen geblieben war. Dieses Risiko wollte man Anfang 1837 vermeiden. Wahrscheinlich spielte auch die Überlegung Grimms hinein, gemäß derer er die KHM-Sammlung von Auflage zu Auflage immer erneut überarbeiten und jedes Mal neue Texte aufnehmen wollte. Das ließ sich bei relativ schnell verkauften 1000 Exemplaren natürlich viel besser realisieren, als wenn Grimm erst alle dutzend Jahre dazu Gelegenheit gehabt hätte. Der Erfolg gab den Überlegungen und Entscheidungen von Autor und dem neuen Verleger recht, so daß man es bei den vier Folgeauflagen bei der kleinen Stückzahl beließ. Die relativ schnelle Folge der Auflagen trug auch insofern dazu bei, die Märchensammlung bekannter zu machen, als dadurch gehäufte Verlagsanzeigen und Buchbesprechungen erzielt wurden. Zudem wuchs im Ausland durch eine steigende Anzahl von Übersetzungen das Interesse am Grimm'schen Märchenbuch ebenso wie die beginnende Märchenforschung, die zunächst (bis hin zum 1913 bis 1932 erschienenen fünfbändigen Standardwerk von Bolte/Polívka „Anmerkungen zu den KHM“) fast ausschließlich auf die KHM und deren wissenschaftliche Anmerkungen zentriert war.
            Man kann also mit vielen guten Gründen von einem entscheidenden Wendepunkt in der Rezeptionsgeschichte des Märchenbuchs im Jahr 1837 ausgehen. Dem wurde allerdings jüngst zum ersten Mal nach 40 Jahren widersprochen. Axel Winzers 2021 erschienene, äußerst verdienstvolle Dissertation „Permanente Metamorphosen“ arbeitet endlich einmal wieder einen Sektor der Grimm-Philologie umfassend und mit bewundernswerter Akribie auf (die gesamte Verlags- und Editionsgeschichte der KHM zu Lebzeiten der Brüder Grimm): Zahlreiche neue Entdeckungen und genaue Wiedergabe der tatsächlichen Facta, die das Märchenbuch im Lauf der Jahre prägten, sind hier so hervorragend dargestellt, daß künftig alle weiteren Forschungen zu den KHM darauf basieren müssen. Natürlich basiert Winzers Arbeit ihrerseits auf den voraus liegenden seriösen Forschungsergebnissen, die er mit umfassenden Kenntnissen einbringt, wenn er sie auch in vielen kleinen Einzelheiten und fast immer mit Recht korrigieren kann.
            Dieses Buch wartet nun etwas überraschend mit einem Kapitel „'Durchbruch* und 'Bestseller'?“ auf, in dem versucht wird, meine Auffassung vom Schicksal der KHM-Rezeption seit 1837 gründlich zu falsifizieren. Rölleke, so liest man da, habe 1985 „verkündet“, daß mit der Auflage von 1837 der Durchbruch für die KHM geschafft worden sei, eine Verkündigung, die bisher - wie gesagt - niemand in Frage gestellt habe. Winzer bezweifelt ohne Begründung, daß der Verlagswechsel sich als „günstig“ und der zuvor deutlich gesteigerte Absatz der Kleinen KHM-Ausgabe als förderlich für die Große Ausgabe erwiesen hätten. Seinen Zweifel macht Winzer ausschließlich an den Auflagenhöhen fest. Zwar muß er konstatieren, daß die dritte KHM-Auflage unerwartet endlich ein Erfolg wurde, weil sie schon nach knapp drei Jahren restlos ausverkauft war. Warum der neue Verleger ausgerechnet dadurch die Erfahrung gemacht haben sollte, daß sich die KHM nach 1837 noch immer schlecht verkauften, schließt Winzer einzig aus der Tatsache, daß es in den vier Folgeauflagen bei der kleinen Stückzahl blieb, die sich wohl gerade dadurch, wie oben dargelegt, schnell verkaufen ließ und in kurzen Abständen von zweimal drei und zweimal sieben Jahren Neuauflagen ermöglichte. Die Blickverengung ausschließlich auf die Menge der gedruckten Stückzahlen führt ihn zur Schlußfeststellung: „'Durchbrüche' und 'plötzliche Erfolge' sehen anders aus. Tatsächlich stagnierte der Absatz der Großen Ausgabe nach 1837 für viele Jahre auf sehr niedrigem Niveau.“ Der Erfolg eines Buches kann nicht nur an der Höhe der verkauften Exemplare festgemacht werden; er zeigt sich genau so an der sich steigernden Bekanntheit und Beliebtheit, die im Fall der KHM auf die Dauer zu einer unvergleichlichen Erfolgsgeschichte führten (schon 1882 erschien die 18. Auflage der Großen, 1883 die 31. Auflage der Kleinen Ausgabe).
            Winzers Argumentation wird auch durch einen Ende 2021 im Märchenspiegel veröffentlichten Aufsatz „Die Mär vom frühen Sensationserfolg“ nicht glaubwürdiger. Denn er bleibt bei seiner Meinung, die er nur durch einige gesteigerte Ablehnungen meiner Auffassung untermauern möchte:
 
       Hätte Wilhelm Grimm  im Jahr seines Todes eine realistische Analyse vorgenommen, er hätte zu dem Schluß
       kommen müssen, mit seinem wichtigsten Projekt gescheitert zu sein. Das ist ein ernüchternder Befund, und
       Röllekes Fama vom früh einsetzenden Jubel liest sich sehr viel gefälliger.

Das sahen und beurteilten Wilhelm Grimm und Jacob Grimm indes vollkommen anders, denn Wilhelm konstatierte mit Recht, „die Märchen haben uns in aller Welt bekannt gemacht“, und Jacob resümiert 1860 in seiner Gedenkrede auf den Bruder:
 
       Tragen wir einen Dank davon für alle unsere Mühe und Sorge, der uns selbst zu überdauern
       vermag, so ist es der für die Sammlung der Märchen.
 
In aller Welt habe sie Wurzeln geschlagen und reichste und wertvollste Sammelarbeiten „allerorten“ angeregt. Das hört sich nun wirklich nicht so an, als wäre das Projekt „gescheitert“ - im Gegenteil, es wurde schon zu Lebzeiten der Brüder Grimm ein fast unvergleichlicher literarischer Welterfolg und ist es bis heute geblieben. Schließlich datiert Winzer den „Beginn einer Erfolgsgeschichte“ der KHM erst auf das Jahr 1913, in dem Boltes erster Band der KHM-Anmerkungen erschien - diesmal ohne die in den 56 Jahren seit 1857 geradezu ins Astronomische gesteigerte Zahl der Auflagen noch gar die Stückzahl in den posthum erschienenen Ausgaben zu berücksichtigen.
 
 
 © Heinz Rölleke fürdie Musenblätter 2022