Die Müller in den Märchen der Brüder Grimm

Die seltsame Reputation eines Berufsstandes

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
Die Müller in den Märchen der Brüder Grimm
 
Die seltsame Reputation eines Berufsstandes
 
Von Heinz Rölleke
 
In vielen Interviews und moderierten Gesprächen werde ich seit Jahrzehnten nach meinem Lieblingsmärchen gefragt. Meine immer gleiche Antwort „Rumpelstilzchen“ erweckt regelmäßig erstaunte Neugier und unweigerlich ein Frage- und Antwortspiel: „Warum?“ - „Weil nach einer klugen Erkenntnis von Günter Grass in diesem knapp zwei Seiten langen Text mehr Welt, Weisheit und Psychologie steckt als in vielen dickleibigen Romanen.“ - „Beispiele?“ - „Die aufzuführen reicht die fünffache Sendezeit oder der begrenzte Raum eines Zeitungsartikels nicht aus. Also begnügen wir uns mit dem Eingangssatz“:
 
            Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter.
            Nun traf es sich, daß er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein           
            Ansehen zu geben, sagte er zu ihm „ich habe eine Tochter, die kann Stroh           
           zu Gold spinnen.“
 
Bis vor etwa 200 Jahren wurde jeder Hörer dieses Märchenbeginns sofort aufmerksam: Wenn ein Müller auftritt, geht die Geschichte bestimmt (vorübergehend) schlecht aus. Was aber ist mit diesem Müller? Müller waren in der Regel sehr reich, wurden von den meist armen Bauern beneidet, in mannigfachem Verdacht genommen und standen deswegen in schlechtem Ruf, was bis hin zur ihrer öffentlichen Einordnung  - fast vergleichbar mit den Scharfrichtern -  in die Kaste unehrlicher oder gar verfemter Berufe führte.
            Der Müller ist arm: Das wirkt befremdlich und weckt Neugierde. Aber er hatte eine schöne Tochter; auch das baut für die Hörer einen spannenden Weg in die Geschichte. Und siehe da, der Müller, der sich seiner Armut wohl schämt, will sein ohnehin schlechtes Ansehen beim König mit einer faustdicken Lüge aufbessern, die auf ein Märchenwunder schließen läßt (wie die Hörer es nach dem Erzähleingang „Es war einmal“ auch erwarten dürfen).
            Dieser Müller ist in Grimms Märchen kein Einzelfall; die meisten Agierenden dieses Berufsstandes sind als Schurken vorgestellt, die ohne Rücksicht auf Frau und Tochter agieren und sich mit Dieben, Räubern, Mördern oder sogar mit dem Teufel selbst eines Vorteils wegen arrangieren.
            Eine Nebenrolle  - die aber vom Erzähler durch einen Einwurf in ihrer Bedeutung als aufschlußreich charakterisiert wird -  spielt der Müller in „Der Wolf und die sieben jungen Geislein“: Der Wolf zwingt ihn, ihm die Pfoten zur Tarnung mit weißem Mehl zu bestreuen. „Da fürchtete sich der Müller und machte ihm die Pfote weiß. Ja, das sind die Menschen.“
            Der Eingangssatz zum „Mädchen ohne Hände“ lautet: „Ein Müller war nach und nach in Armut geraten“, und das scheint ihm so unerträglich wie seinem Berufsgenossen im „Rumpelstilzchen“. In Tarngestalt naht sich ihm der Teufel, dem er für die Zusage neuen Reichtums seine Tochter nach drei Jahren übergeben will. Hier zeigt sich wieder eine Parallele zur schuldhaften Gleichgültigkeit, mit dem der eingangs vorgestellte Müller seine Tochter dem König und dadurch ihrem scheinbar sicheren Tod überläßt.
            Ein Müller, der unbedingt seine Tochter gut versorgt wissen will, gibt sie ohne Weiteres dem betuchten „Räuberbräutigam“ und spricht ihr damit ungewollt das Todesurteil.
            Im Märchen „Der junge Riese“ ist ohne Erläuterung von einer „verwünschten Mühle“ eines Müllers (vielen auch durch Otfried Preußlers „Krabat“ bekannt) die Rede, in der Teufel ihr Unwesen treiben.
            Das sind nur einige Beispiele für die in der Regel als halbe Verbrecher und Teufelsbündner begegnenden Müller. In einem Gegenbeispiel („Der Teufel mit den drei goldenen Haaren“) werden die Müllersleute ausdrücklich als fromm und menschenfreundlich charakterisiert. Als der böse König das Glückskind ersäufen will, wird es durch einen Mahlknecht gerettet, der es den Müllersleuten übergibt. Sie sind eindeutig als eine Ausnahme unter ihren Berufsgenossen charakterisiert, denn es heißt, sie „freuten sich und sprachen: 'Gott hat es uns beschert.' Sie pflegten den Fündling wohl, und er wuchs in allen Tugenden heran.“
            Insgesamt wird das Bild des Müllers im Volksmärchen mit einem alten Sprichwort bestätigt („Der Zaunkönig“): „War der Müller ein Betrüger, und ließ die Mühle an, so sprach sie […] 'wer ist da? Wer ist da?' dann antwortete sie schnell 'der Müller! Der Müller!' und endlich ganz geschwind 'stiehlt tapfer, stiehlt tapfer, vom Achtel drei Sechter'.“ Das Klappern der Mühle ruft es also allmorgendlich weit ins Land hinein: Der Müller ist ein notorischer Dieb (Achter und Sechter sind alte hessische Getreidemaße und entsprechen ungefähr 141 bzw. 6,5 Litern).
            Was die oft in der Literatur begegnenden Müllerstöchter betrifft, so gelten für sie zwei Topoi: Sie sind immer schön und meist reich, aber in ihren Liebesbeziehungen untreu. Das (Vor)Urteil scheint zum Teil zu den früher gegebenen Realitäten zu stimmen: Müllerstöchter wuchsen bestens genährt heran und brauchten auch in früheren Zeiten keine Kinderarbeit zu leisten - im Gegensatz zu den meisten Kindern aus ärmeren, meist kleinbäuerlichen Verhältnissen. Die Untreue mag ein Erbteil ihrer Eltern, aber auch einer gewissen Hochnäsigkeit zuzuschreiben sein.
            Aus den vielen entsprechenden Belegen in der Literatur sei nur an den jungen Müller im Zyklus „Die schöne Müllerin“ von Wilhelm Müller und an Eichendorffs betrogenen Liebhaber im Gedicht „In einem kühlen Grunde,/ Da geht eine Mühlenrad“ erinnert: Jener findet aus Gram über die Untreue seiner Geliebten den Tod im Mühlbach, dieser wünscht sich aus demselben Grund den Tod: „Hör' ich das Mühlrad gehen,/ Ich weiß nicht, was ich will;/ Ich möcht' am liebsten sterben,/ Da wär's auf einmal still.“
            Der deutsche Sprichwortschatz ist überreich an Belegen, die den Müller schmähen. Das große Lexikon von Wander füllt allein fünf Spalten mit solchen Redensarten aus verschiedensten Zeiten und Gegenden. „De Müller stielt ut allen Säcken wat“; „Der Müller hat die fettsten Schwein,/ Die in dem Lande mögen sein./ Er mästs aus Bauern Säcken“; ein Bauer „hat drei Säck' in die Mühl getan,/ Sind ihm zwei wiederkommen.“ Es sind die Hauptvorwürfe der Bauern gegen Müller und Mühle, die sie nicht wie die Müller bedienen konnten, auf die sie jedoch existenziell angewiesen waren. Den meisten Lebensbedarf stellten die Bauern selbst her, ihr Korn aber mußten sie in die Mühle bringen, wenn es gemahlen und nutzbar gemacht werden sollte. Gegen alle Fremdleistungen waren Bauern mißtrauisch: Drei Säcke mit Korn in die Mühle, nur zwei Säcke mit Mehl heraus – da witterten sie Betrug. Aber auch die allgemeine Verurteilung der Müller und des Umgangs mit ihnen fand im Sprichwort Ausdruck: „Wer mit einem Müller umgeht, wird staubig.“ Die Spottverse ärgerten die Müller, aber sie änderten nichts an der Lage: Ohne die Müller ging für sie nichts: „Die Müller hängt man nicht wie andere Diebe, damit das Handwerk nicht untergehe.“ Die Abhängigkeit vom Müller ging so weit, daß man sogar öffentlich ein Mühlenasyl proklamierte. Wie beim Kirchenasyl durfte in Mühlen kein Verbrecher gewaltsam dingfest gemacht werden, weil  man Zerstörung oder Beschädigung des kostbaren Mühlwerks befürchtete, die dann lange Zeit hindurch nicht zu beheben gewesen wäre, was ein großes Unglück für alle Bauern bedeutet hätte. Was Wunder, daß die herumstreunenden Diebe, Räuber oder Mörder in der Mühle Zuflucht suchten, zumal die Wasser- oder Windmühlen meist außerhalb der abends verschlossenen Stadttore lagen und nicht polizeilich kontrolliert werden konnten. Auch das weckte Neid in der Stadtbevölkerung, die sich nicht so unbeschwert und unbeobachtet gehen lassen konnte - besonders auch weil man in manchen Mühlen einen florierenden, von den Müllersfrauen geleiteten Bordellbetrieb witterte. Vom Müller glaubte man, daß er freiwillig oder gezwungenermaßen mit den Räubern, vornehmlich als Hehler, gemeinsame Sache mache.
             „Der Müller gäb ein Batzen drum,/ Daß man ihms Liedlein nimmer sung“, heißt es zur Irritation der Müller durch die Schmähverse in einem „Wunderhorn“-Lied aus dem Anfang des 16. Jahrhunderts. In der berühmten Volksliedersammlung finden sich einige grobe und grobschlächtige Lieder mit beißendem Spott gegen die verachteten Müller, von denen nur auf eines aus dem Beginn des 17. Jahrhunderts hingewiesen sei. Unter dem bezeichnenden Titel „Müllertücke“ berichtet die Ballade, daß ein Müller seine schwangere Frau für sehr viel Geld an drei Mörder verkauft; der Bruder rettet ihr Leben in letzter Minute. Sein Resümee: „Du Müller, du Mahler, du Mörder, du Dieb!/ Du hast meine Schwester zu den Mördern geführt,/ Gar bald sollst du mir sterben.“
            Schlimmer konnten die Verleumdungen nicht werden. Aber mit den Anfängen der arbeitsteiligen Gesellschaft erkannte man im Müller immer mehr einen so honorigen wie unersetzlichen und fleißigen Garanten für die Lebensmittelversorgung. Nun wurden auch Loblieder auf ihn gesungen wie zum Beispiel „Es klappert die Mühle am rauschenden Bach“, in dem der Müller als Wohltäter (und da er uns „unser tägliches Brot“ gibt, gar in die Nähe des göttlichen Gabenspenders gerückt) gefeiert wird:
 
            Bei Tag und bei Nacht ist der Müller stets wach
            Klipp klapp.
            Er mahlet das Korn zu dem kräftigen Brot,
            Und haben wir dieses, so hat's keine Not.
            Klipp klapp.
 
Das mag nun alle, die den weit verbreiteten Namen Müller, Möller oder Miller tragen, versöhnlich stimmen, die meist erschrecken, wenn sie vom üblen Ruf erfahren, in dem die tatsächlichen Müller in früheren Zeiten standen.
            Was aber ist aus dem Müller im „Rumpelstilzchen“-Märchen geworden, der nach der Eingangsszene spurlos aus der Geschichte verschwunden ist? Wie alle Nebenfiguren im Märchen wird auch dieser Vater der Märchenheldin endgültig verabschiedet, wenn er seine Funktion (deswegen auch Funktionsträger genannt) erfüllt hat. Denkt man über das nach, was das Märchen verschweigt, so ist das Ergebnis eindeutig: Nach seiner lügenhaften Prahlerei, mit der er seine Tochter dem unbarmherzigen goldgierigen König quasi ans Messer geliefert hat („wenn du bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so mußt du sterben“), wird er drei Tage später Schwiegervater des Königs. Der Rabenvater wird für sein böses Tun nicht nur nicht bestraft, sondern sogar königlich belohnt. Das ist ein weiterer Beweis gegen die törichte und gänzlich unzutreffende Behauptung in (Grimms) Märchen würden immer die Guten belohnt und die Bösen bestraft. Das Märchen folgt auch in Fragen einer ausgleichenden Gerechtigkeit keinen religiösen oder bürgerlichen, sondern seinen eigenen Moralvorstellungen.
Das Märchen ist letztlich nur am Happyend seiner Helden interessiert und wertet jenseits aller gängigen Moralvorstellungen alles als richtig, was ihnen dazu hilft.
            Der arme Müller, der nur darauf aus war, sich ein Ansehen zu erschleichen, hat seine Tochter ungewollt auf ihren beschwerlichen Weg zum finalen Glück gebracht. Und das allein ist die Rolle, die ihm das Märchen zugedacht hat.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2022