Splitter von der ukrainischen Front

von Michael Zeller

Splitter von der ukrainischen Front
 
Von Michael Zeller
 
Fast ihr gesamtes Leben hat Oksana P. in Charkiw verbracht. Sie ist Lyrikerin und Übersetzerin aus dem Deutschen. Ihren (bescheidenen) Lebensunterhalt verdiente sie sich als Literaturdozentin an Schulen und an der Universität. Sie wohnt an Stadtrand, in jenen acht- bis zehnstöckigen Wohnhochhäusern von sozialistischer Machart. Mit der Metro braucht sie etwa zwanzig Minuten bis zu dem großartig weiten Freiheitsplatz im Zentrum. Die Zerstörungen, die dort jetzt zu sehen sind, greifen mir ans Herz. Und auch meine Hoffnung, daß wenigstens Oksanas Wohnviertel verschont bliebe von russischen Bomben, erfüllt sich nicht. Auch hier wird bombardiert – Wohnhäuser, wohl gemerkt. Ihre Wohnung sei mittlerweile kalt, das Wasser gehe nicht mehr. „Charkiw ist zur Zeit in der Blockade”, schreibt sie.
 
Heute morgen, um 8 Uhr früh, teilt sie mir mit, die Zerstörungen Charkiws seien mittlerweile größer als die des Zweiten Weltkriegs. Neben dem „Nürnberger Haus” seien zwei mehrstöckige Gebäude zerstört worden. Ob das Nürnberger Haus davon Schaden genommen habe, wisse sie nicht. Dieses Haus ist eine seit vielen Jahren gut funktionierende ukrainisch-deutsche Kulturvermittlungsstätte. Seit langem habe ich dort mit ukrainischen und deutschen Kollegen zusammen gelesen und diskutiert.
 
Auch auf die Uspensker Kathedrale wurden Bomben geschmissen. Die Barockkirche, in den 1770er Jahren erbaut, ist eine der Touristenattraktionen der Stadt. Sie gehört zum Moskauer Patriarchat, das bisher treu und ergeben an der Seite Rußlands gestanden hat. Jetzt, nach dieser Bombardierung ihres Hauses, rücke sie davon ab. Das sei sehr wichtig, meint Oksana – die Kirche habe nach wie vor großen Einfluß auf die Bevölkerung.
 
Großes Vertrauen in die Politiker setzt Oksana gewöhnlich nicht, aber den jetzigen Bürgermeister der Stadt hält sie für einen starken und mutigen Mann. Natürlich werde er „von den Moskovitern” gejagt. (Die Ukrainer bezeichnen die Russen oft als Moskoviter.) „Gott bewahre ihn!“
Als letzten Satz einer früheren Nachricht schrieb sie: „Helfen kann man uns nicht.” Ihre einzige Hoffnung: „Putin kommt bald in der Hölle an, auf der größten Pfanne!!!!  Dann wird es leichter sein.”

*
Iryna R. ist ebenfalls Übersetzerin aus dem Ukrainischen ins Deutsche, aber sie lebt in einer westdeutschen Großstadt, verheiratet mit einem Universitätsprofessor. Ich kenne sie nur als eine zurückhaltende, stille Person hinter einer dicken Brille, von einer furchteinflößenden Belesenheit. Sie geht auch allmählich aufs Rentenalter zu. Ihr letztes Schreiben hat mich von den Socken geholt:
 
„Ich bedaure, zur Zeit nicht in Kyjiw zu sein, ich würde mich der territorialen Verteidigung anschließen. Jetzt gilt nur eins: Jeder tote putinsche Soldat bringt uns unserem Sieg näher.“ Und dann berichtet sie von einer Begebenheit, in der der Geist einer antiken Fabel weht:
„Eine alte Frau in der Ukraine wandte sich an einen Besatzer und riet ihm, ein paar Sonnenblumenkerne in die Tasche seiner Uniform zu stecken. Wenn er verreckt und seine Leiche im ukrainischen Boden verwest, wird es wenigstens einen Nutzen der Ukraine von ihm geben – es wachsen an dieser Stelle große, gut gedüngte Sonnenblumen auf.”
 
Und Iryna endet ihre deftige Botschaft an mich mit einer vierfachen Fanfare:
„Es lebe die Ukraine!
Es leben die Helden!
Schande Rußland!!!
Wir werden siegen!”

Da verliert jemand, der (noch) im Frieden lebt, seine Sprache. 
 
(Die beiden Personen sind krieggemäß verschlüsselt.)
 
Michael Zeller hat in seinem Buch „Die Kastanien von Charkiw - Mosaik einer Stadt” ein leise poetisches Bild dieser friedfertigen Stadt im Osten der Ukraine gezeichnet. Durch den Überfall Rußlands, besser: durch Wladimir Putins brutale Mordarmee, die dabei ist, Charkiw durch das andauernde rücksichtslose Bombardement von Wohnvierteln, Krankenhäusern und Einrichtungen der Infrastruktur ebenso wie andere Großstädte der Ukraine in Schutt und Asche zu legen, ist Zellers Porträt Charkiws schreckliche, erschreckende Aktualität zuteil geworden. Die Musenblätter haben „Die Kastanien von Charkiw“ im Januar    hier  vorgestellt.