Zwischen Vereinigung und Kampf

„Atlas 3 - Blu Blu Blu“ von Emanuele Soavi in Köln

von Anne-Kathrin Reif

Emanuele Soavi - Foto Joris Jan Bos
Zwischen Vereinigung und Kampf
 
Wiederaufnahme des Tanzstücks „Atlas 3 - Blu Blu Blu“
von Emanuele Soavi in Köln
 
In dem Tanzstück „Atlas 3 – Blu Blu Blu“ von Emanuele Soavi finden so gegensätzliche Elemente wie Tanz und Judo, elektronische Musik und Johann Sebastian Bachs „Chaconne“ auf spannungsvolle Weise zusammen. Und dabei geht es um große Themen. Vom 11. bis 13. März 2022 ist das 2020 entstandene Stück in der Tanzfaktur Köln zu sehen. Anne-Kathrin Reif hat mit dem Choreografen darüber gesprochen.
 
Es geht um große Themen: Um den Menschen als leibliches Wesen, um das körperhafte Verhältnis zum anderen in einem Spannungsverhältnis zwischen Annäherung, Vereinigung und Kampf, um Vergänglichkeit, Tod und die Sehnsucht, Spuren zu hinterlassen. „Atlas 3 – Blu Blu Blu“ schließt das dreiteilige Atlas-Projekt des Kölner Choreografen Emanuele Soavi ab: Eine choreografische Spurensuche, gewidmet dem Körper in Ausnahmesituationen, dem Menschen darin und seiner Geschichte. „Atlas 3 hat mehr mit der Seele und Emotionen zu tun – was für mich auch zur Anatomie des Menschen gehört“, erklärt Soavi. „Es geht um Fragen wie: Was passiert mit beziehungsweise im Herzen, oder welche Rolle spielen die Instinkte, wenn wir handeln, ohne alles kontrollieren zu können?“
 
Ein „dialogisches Prinzip“ durchzieht den Aufbau von „Blu Blu Blu“: Tanz trifft auf Kampfsport, Barockmusik auf eine elektronische Neukomposition. In jedem Bereich treten zwei Protagonisten miteinander in Beziehung: die beiden Tänzer aus der Compagnie von Emanuele Soave Lisa Kirsch und Federico Casadei, die beiden Judoka Tobias Mathieu und Aaron Schneider, sowie die Violinistin Nadja Zwiener und der Soundkünstler Johannes Malfatti. Musikalische Grundlage ist die berühmte Chaconne aus der Partita Nr. 2 für Violine solo von Johann Sebastian Bach.
 
Es sei genau diese Komposition mit ihrer besonderen Geschichte gewesen, die zur Keimzelle des ganzen Stücks wurde, berichtet Emanuele Soavi: „Diese sehr emotionale Musik mit der Solovioline und dem Thema der Zweisamkeit bzw. verlorenen Zweisamkeit fügte sich plötzlich mit dem Themenkomplex des Stücks, das ich im Sinn hatte, wunderbar zusammen“. Dazu muß man wissen: Die Partita gehört zu dem sechsteiligen Werk (BWV 1001-1006), das Bach komponierte, als er nach drei Monaten Abwesenheit nach Leipzig zurückkehrte und erfahren mußte, daß seine Frau Maria Barbara in der Zwischenzeit gestorben war. Das Werk, bestehend aus sechs Solostücken, hat Bach mit dem Titel „Sei Solo“ versehen – und nicht „Sei Soli“, wie die richtige Pluralform wäre. Im Singular „sei solo“ bedeutet es „du bist allein“. Neben durch Zahlensymbolik verschlüsselte Lebens- und Sterbedaten enthält das Stück versteckte Choräle, welche um die Themen Vergänglichkeit, Tod und Erlösung kreisen – die Chaconne gilt deshalb als eine Art musikalisches Epitaph für Bachs überraschend verstorbene Frau.
 
„Diese Partitur hat viel zu tun mit der Situation ,ein Mensch in einem Raum‘. Bach alleine in einem Raum schreibt etwas für eine Frau – seine verstorbene Frau. Von da aus wurde dann das Thema der Ich-Du-Beziehung interessant für uns, und wir überlegten: Warum machen wir diesen Dialog zwischen Ich und Du nicht als Dialog zwischen unterschiedlichen Disziplinen?“, stellt Soavi die besondere Bedeutung der Komposition für die Entwicklung seines Stücks heraus. Die Musik Bachs – live gespielt von der renommierten Violinistin Nadja Zwiener – tritt dabei selbst in einen Dialog mit der elektronischen Komposition von Johannes Malfatti. „Der Computer, die Maschine, die synthetische Welt der elektronischen Musik repräsentiert musikalisch einen Übergang – sie fordert die vergänglichen Künste Musik und Tanz dazu heraus, sich der eigenen Endlichkeit zu stellen“, erklärt Soavi. Die Barockvioline soll dagegen für das menschliche und physisch Erfahrbare stehen und im Kontrast mit der elektronischen Musik die verschiedenen Zeitebenen spürbar werden lassen.
 
Aber wie finden im Kosmos dieser nachgerade philosophischen Überlegungen so unterschiedliche Disziplinen wie Tanz und Judo zusammen?
 
„So weit liegt beides gar nicht auseinander“, findet Emanuele Soavi. „Zunächst einmal arbeiten beide Formen mit dem Körper und mit dem Zusammenspiel von Körpern. Und dabei hat jeder der Partner auch eine Verantwortung für den anderen – im Judo genauso wie im klassischen Ballett. Es ist eine fragile Beziehung, zu der beide Partner ihren Teil beitragen“, erklärt er. In der Philosophie des Judo verbinden sich „Ich“ und „Du“ auf ganz besondere Weise, weiß der Choreograf, der in seiner Jugend selbst jahrelang Judosport betrieben hat. „Wenn ich kämpfe, muß ich aufpassen, daß ich meinen Gegner nicht töte, denn sonst kann ich nicht mit ihm weiterspielen. Es ist ein Kampf, aber nicht mit dem Ziel, den anderen zu zerstören. Beide müssen die Grenzen einhalten, denn sonst gibt es keinen Dialog mehr zwischen Ich und Du. Der Kampf verbindet Leere, Einsamkeit und Grenzerfahrung mit höchster Disziplin, Ritual und Konzentration. Sein Material ist die dynamische Analyse, die Bewegung, die Komposition. Wie im Tanz, wie in der Musik.“
 

ATLAS 3 Emanuele Soavi incompany - Foto: Joris Jan Bos

Atmosphärisch zusammengehalten wird der dreiteilige Tanzabend, bei dem der Judo-Part den Mittelteil bildet, von der titelgebenden Farbe Blau: Sie steht für Emotionalität, Seele, für die Unendlichkeit, für die Melancholie des Abschieds und taucht die Szenerie in dreimal wechselndes, intensiv blaues Licht. Ein Blau wie in Bildern des Künstlers Yves Klein – der sich sein Leben lang intensiv in Theorie und Praxis mit der Philosophie des Judo auseinandergesetzt hat.
 
Informationen:
Die Uraufführung von „Atlas 3 – Blu Blu Blu“ fand am 28. Februar 2020 in Leipzig statt, die NRW-Premiere folgte vier Wochen später im Orangerie Theater Köln.
Termine der Wiederaufnahme sind am 11. März 2022 (20 Uhr), 12. März (20 Uhr) mit anschließendem Publikumsgespräch und 13. März (18 Uhr) in der TanzFaktur, Siegburger Str. 233w, in Köln-Deutz. Karten (16,50 Euro/ ermäßigt 9,50 Euro): www.tanzfaktur.eu.
 
Emanuele Soavi ist Tänzer, Choreograf und künstlerischer Leiter des in Köln beheimateten Ensembles Emanuele Soavi incompany, das er 2012 gründete. Er versteht sich als „Brückenbauer“ zwischen Institution und freier Szene, Erbe und Gegenwart, Labor und Großprojekt, Forschung und Praxis, Künstlerinnen/Künstlern und Publikum. Nach Engagements als Tänzer in Italien, Deutschland und Holland ist er seit 2006 als freischaffender Choreograf international für Ensembles, Theater und Hochschulen unterwegs. Soavi wurde sowohl mit dem Kölner Tanzpreis als auch mit dem Darstellerpreis ausgezeichnet, seine Arbeiten wurden zu zahlreichen Gastspielen und internationalen Festivals in Deutschland, Italien, Spanien, Österreich, Irland, Kroatien, Schweden, den Niederlanden, der Schweiz, Südkorea und Weißrussland eingeladen. Die Arbeit der Kompanie wird im Rahmen der Konzeptionsförderungen der Stadt Köln und des Landes NRW unterstützt (www.emanuelesoavi.de).
 
Das Repertoire der in Erfurt geborenen und in Berlin und London ausgebildeten Geigerin Nadja Zwiener reicht vom Barock bis in die Romantik mit seltenen, aber willkommenen Ausflügen in die Neue Musik. Sie spielte in zahlreichen britischen, französischen und deutschen Alte-Musik-Ensembles, bevor sie 2007 Konzertmeisterin bei The English Concert wurde, mit dem sie regelmäßig auch solistisch auftritt und zahlreiche Rundfunk- und CD-Aufnahmen sowie weltweite Tourneen in die großen Konzertsäle der Welt unternimmt. Als in Leipzig lebende Thüringerin liegt Nadja Zwiener die Musik von Johann Sebastian Bach besonders am Herzen. Sie spielt eine Barockvioline, die von David Tecchler 1723 in Rom gefertigt wurde (www.nadjazwiener.com).
 
Johannes Malfatti ist ein in Berlin lebender Komponist. Er absolvierte die nationale Film- und Fernsehschule HFF „Konrad Wolf“ im Bereich Ton für audio-visuelle Medien. In seiner Soloarbeit konzentriert er sich auf zeitgenössische und experimentelle Techniken, wobei er häufig akustische und elektronische Elemente kombiniert, um eine reiche und sich langsam bewegende Klangumgebung zu schaffen. Seine vielfältigen Arbeiten für Film-, Fernseh-, Theater- und Musikprojekte reichen von der elektronischen Musik bis zur Orchesterkomposition (www.johannesmalfatti.com).