Aufklärung

von Victor Auburtin

Noctua pronuba (Triphaena pronuba) © entomart
Aufklärung
 
Zwölf Nachtfalter von der Gattung Triphaena pronuba schlüpften aus ihren Puppen und breiteren ihre grauen Flügel aus. Und zwar vollzog sich dieses Ereignis abends um neun Uhr, dicht an dem Gartenzaun, dort, wo immer die große Gießkanne steht. Der Falter, der zuletzt ausgeschlüpft war, und deshalb als der jüngste und unerfahrenste von ihnen angesehen werden muß, sagte: »Ich sehe da oben etwas Helles; was mag das sein?« Der, der zuerst aus seiner Puppe gekommen war, antwortete: »Man nennt das ein Licht. Es geht meistens von etwas Brennendem oder Glühendem aus und ist deshalb fast immer mit einer erhöhten Temperatur verbunden.«
»Das werden wir gleich sehen«, meinte der andere Falter und begann seine jugendlichen Flügel zu strecken.
»Ich warne dich«, sagte der Ältere, »es sieht stark und gefährlich aus. Glaube mir, der schon mehr von dieser Welt gesehen hat als du, und bleibe hier bei uns anderen im Dunkeln, wo es ruhig und sicher ist.«
»Licht, es heißt Licht«, rief der Jüngere und flatterte auf den hellen Schein zu.
Es war dieser Schein aber das offene Fenster an dem Arbeitszimmer des katholischen Religionslehrers Pfarrer Dr. Franke. Der saß an einer Petroleumlampe und schrieb einen Artikel über die unbefleckte Empfängnis der Jungfrau Maria, der in der nächsten Nummer der Stimmen von Maria-Laach erscheinen sollte. Der jüngste Falter flatterte durch das Fenster auf die Lampe zu, und in diesem Augenblick war sein kleines Herz ganz voll von den gewaltigen Sonnenrädern des ewigen Glücks. »Licht«, jauchzte er und rannte gegen das Petroleumbassin der Lampe, an dem er mit seinen Flügeln hängenblieb; und wollte wieder los und schlug und zappelte.
»Steht diese Stelle nun bei Hiob oder bei Habakuk?« dachte der Pfarrer Dr. Franke und blickte in scharfem Nachsinnen vor sich hin. Und weil ihn bei dieser geistigen Anstrengung das Surren des Falters störte, nahm er seine schwarze Tintenfeder her und quetschte ihn tot.
Unterdessen hatten sich die elf Brüder des Falters einen finsteren Winkel ausgesucht zwischen dem Wagenschuppen und dem Entenstalle, wo sie auf und nieder schwebten und ihre vorsichtigen Tänze vollführten. Und dort gründeten sie jenen Verein zur Hebung des völkischen Bewußtseins, der später ein so großes Ansehen gewinnen sollte.
 

Victor Auburtin