Küsse essen. Kann jedes Kind.

Otto Jägersberg – „Pianobar“

von Frank Becker

Küsse essen. Kann jedes Kind.
 
Otto Jägersberg beobachtet das Leben
 
Wen ich in den letzen Tagen, Samstag bis Montag küßte.
Susan. Johanna. Ellen. Gisela. Klaus. Sibylle.
Sowieso Regula. Anke auch.
 
Manchmal ist es nur ein Satz, vielleicht sind es zwei. Doch das reicht allemal aus, eine Beobachtung, eine Situation, eine Befindlichkeit, einen Sitz im Leben so trefflich zu beschreiben, daß man mit einem Lächeln sagt: Ja. Otto Jägersberg ist ein Meister der kleinen Prosa-Form, die gedanklich durchaus dem Haiku nahe steht. Das trifft genauso auch bei den etwas längeren Texten zu, die einen Absatz, eine halbe Seite oder eine, ausnahmsweise auch mal anderthalbe beanspruchen. Was man da liest ist klug und meist amüsant, immer aber nachdenklich und von einer erstaunlichen Einsicht und Gültigkeit. Man kann Otto Jägersbergs Aufzeichnungen, wie schon die in „Keine zehn Pferde“ (2025), „Die Frau des Croupiers“ (2016) und „Liebe auf den ersten Blick“ (20219) also getrost als Fingerzeig, vielleicht sogar als Richtschnur nehmen. Da ist nichts unausgegoren, kein Blick verstellt. Seine Feststellungen und Erzählungen, ob er Synagogen, Offenburg, Frauennascher, Walser (Martin oder Robert), Fernsehköche, wohlhabende Touristen, Russen, Rentner im Wald, Lichtenberg, Napoleon oder Filzpantoffeln von ALDI ins Visier nimmt, treffen den Kern. Otto Jägersberg ist kompromißlos in die Wahrheit, in die Liebe und in Regula verliebt. Permanent.
 
Sachen, die mich an ihr bezaubern. Ganz unvorbereitet
zieht sie mich am Ärmel und sagt, darf ich Sie mal eben küssen.
Und tut das.
Wenn wir losgehen, paßt sie sich mit zwei kleinen Hüpfschritten
 meinem Rhythmus an.
 
Der gebürtige Westfale – was gewiß für einen Teil seiner Unmittelbarkeit verantwortlich ist – und durch Neigung naturalisierte Schweizer – was wiederum sicher seiner Unabhängigkeit zugute kommt – ist ein Mensch, der das Leben an sich und für sich als Nektar für sein Schreiben aufsaugt und dessen Köstlichkeit in wunderbaren Miniaturen an mich weitergibt. Ich sage das, weil ich es wirklich so empfinde, daß Otto Jägersberg mich persönlich gemeint hat. Ich bin aber auch sicher, daß Sie, geneigter Leser, verehrte Leserin, diesen meinen Satz als den Ihren wiederholen werden, sobald Sie dieses wunderbare Buch lesen. Ich empfehle Ihnen die Lektüre von Herzen. Otto Jägersbergs neue Sammlung kleiner Prosa „Pianobar“ bekommt unsere Auszeichnung, den Musenkuß.
 
Liebe ist immer. Der Mensch ist dauernd von und durch Liebe
Gefährdet. Sie lauert überall, vorn wie hinterrücks. Nichts nimmt
sich so wichtig wie die Liebe. Selbst der Tod nicht. Der Tod zieht
sich zeitweise aus unserer Erfahrung zurück. Die Liebe nimmer.
 
Otto Jägersberg – „Pianobar“
Kurze Prosa
© 2021 Diogenes Verlag AG, 263 Seiten, Ganzleinen, Schutzumschlag, Lesebändchen, ISBN: 978-3-257-07167-2
24,- €
 
Weitere Informationen: www.diogenes.ch