Wo Kinder die Helden sind

Stefan Neumann zum 100. Geburtstag des Autors Max Kruse

von Uwe Blass

Stefan Neumann - Foto: UniService Transfer
Wir lernen aus der Geschichte nicht, was wir tun sollen.
Aber wir können aus ihr lernen, was wir bedenken müssen.
Das ist unendlich wichtig.
(Richard von Weizsäcker)
 
Wo Kinder die Helden sind
 
Dr. Stefan Neumann im Jahr100Wissen-Interview
zum 100. Geburtstag des Autors Max Kruse
 
Seine Mutter war Deutschlands bekannteste Puppenmacherin, sein Vater ein renommierter Bildhauer. Aber es waren seine Bücher, die Generationen von Kindern begeisterten. Max Kruse erfand mit seinem Dino Urmel eine unvergessene Figur. Wie er darauf kam und welche Rolle ein Kühlschrank dabei spielte, verrät der Germanist Dr. Stefan Neumann im Jahr100Wissen-Interview zum 100. Geburtstag des Erfolgsautors.
 
Max Kruse gilt als einer der bekanntesten deutschen Kinder- und Jugendbuchautoren. Am 19. November wäre er 100 Jahre alt geworden. Wer war dieser Mann?
 
Neumann: Max Kruse war ein sehr stiller, in Gesprächen oft schweigsamer Mensch. Und gleichzeitig war er wortgewandter Schriftsteller, dessen Bücher wie „Urmel aus dem Eis“, „Don Blech“ oder „Der Löwe ist los“ bis heute zu den Klassikern der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur gehören.
 
Das erste Kinderbuch „Der Löwe ist los“ entstand eigentlich auf Drängen seiner Mutter Käthe Kruse. Warum?
 
Neumann: Käthe Kruse hatte ihren jüngsten Sohn bereits in seiner Jugend zum Schreiben ermuntert. 1947 dann wünschte sie sich einen Kinderbuchtext, um ihn mit Fotos ihrer Puppen in Szene setzen zu können. Daraus wurde Max Kruses erster Erfolg „Der Löwe ist los“.
 
Eine Figur seiner Kinderbücher kennt in Deutschland eigentlich jeder. Um wen handelt es sich dabei?
 
Neumann: Das ist Urmel, der lispelnde Dinosaurier, der als Ei im Eis das Aussterben seiner Art überlebt hat. Urmel ist der Mittelpunkt einer kleinen, überschaubaren Welt verschiedenster Tiere, die bei Professor Tibatong auf der Insel Titiwu leben. Dieser Professor hat die Gabe, Tieren das Sprechen beizubringen und die Tiere der Insel lernen es bei ihm – absolut freiwillig, wohlgemerkt!
 
Bei der Idee zum „Urmel“ spielt eine Tiefkühltruhe eine Rolle. Was hat es damit auf sich?
 
Neumann: Der Gedanke, daß Tiefgekühltes die Zeit überdauert, kam Max Kruse eigenen Aussagen zufolge, als er nach einem Gespräch mit Manfred Jennings zurück nach Hause kam und die tiefgefrorenen Forellen für das Abendessen sah. Manfred Jennings war damals Hausautor und Regisseur der Augsburger Puppenkiste, die einen großen Einfluß auf den Erfolg der Urmel-Reihe hatte.
 
Das Witzige an den Tieren der Urmel-Reihe sind die diversen Sprachfehler der Protagonisten. Hat er da einfach das Dr. Doolittle-Prinzip umgedreht?
 
Neumann: Ja, so sagt Max Kruse es in einem Interview zumindest selbst. Aber daß Tiere und Menschen miteinander sprechen können, ist ja in der Kinderliteratur – und nicht nur dort – nun nichts Neues. Es gibt kaum ein Märchen, in dem Menschen und Tiere nicht miteinander sprechen. Und das muß auch so sein. Das hat mit dem zu tun, was der Entwicklungspsychologe Piaget Animismus nennt, jene Phase, die ein Kind durchläuft, in der es alles um sich herum für beseelt, für menschengleich hält, Teddybären, Fahrräder, vor allem aber Tiere. Und was beseelt ist, kann natürlich auch sprechen – sprechen und verstehen.
Die Sprachfehler, die Max Kruse sich für seine Figuren ausdachte, dienen dabei einfach der Komik. Wortwitze und Sprachspielereien sind für Kinder mit ihrem anarchischen Humor unglaublich witzig. Außerdem dienen sie dazu, sich Sprache anzueignen, mit ihr eigenständig umzugehen, sie zu entdecken. Deshalb spielt jede gute Kinderliteratur, vor allem für kleinere Kinder, auf irgendeine Art und Weise mit Sprache. Erwachsenenliteratur natürlich auch.
 
Viele Lehrer waren damals über die unkorrekte Sprache sehr empört. Geschadet hat es den Büchern aber nicht, oder?
 
Neumann: Den Büchern nicht und den Kindern, die diese Bücher gelesen haben oder vorgelesen bekommen haben, erst recht nicht.
 
Was ist das Besondere an Kruses Kinderbüchern?
 
Neumann: Um das zu verstehen, muß man sich die Zeit anschauen, in der diese Kinderbücher entstanden sind. Deutschland und Europa lagen in Schutt und Asche. Sechs Millionen Juden waren bestialisch umgebracht worden. Mit welchem Recht wollten Erwachsene, die die Welt so zugerichtet hatten, Kindern da noch irgendeine moralische Botschaft mit auf den Weg geben? Pädagogische Literatur hatte erst einmal ausgedient, und es ist Menschen wie Max Kruse, Michael Ende oder Ottfried Preußler zu verdanken, daß sich ein neuer Ton in der deutschsprachigen Kinderliteratur entwickelt und schließlich durchgesetzt hat. Keine Literatur mit erhobenem Zeigefinger, keine drastischen oder brutalen Geschichten. Es waren die leisen, phantasievollen, vielleicht sogar ein bißchen abseitigen Erzählungen, die mit Kruses „Der Löwe ist los“ ihren Anfang nahmen. Verspielte Geschichten, die immer auch witzig waren, und in denen ein Kind Kind sein durfte. In der Kinder und Jugendliteraturforschung spricht man von der Phase der Kindheitsautonomie. Die Kinder sind die Helden dieser Geschichten, sie sind eins mit ihrer Umgebung. Sie sind unabhängig von den etablierten Erwachsenen und ihnen in allem haushoch überlegen. So wie Pippi Langstrumpf, die schwedische Schwester der Figuren von Kruse, Ende und Preußler.
„Urmel aus dem Eis“, das erst 1969 entstand, war dann so etwas wie ein Gegenprogramm zu der problemorientierten Literatur, die in den späten 1960er Jahren an Popularität gewann, Literatur, die soziale Probleme in den Vordergrund stellte und Kinder ganz bewußt damit konfrontierte. Mit Professor Tibatong, Tim Tintenklecks, Urmel, Wutz und der Mupfel bewahrte Max Kruse auf der kleinen Insel Titiwu einen Schonraum für lustige und verspielte Literatur.
 
Durch die Fülle der digitalen Angebote hat man leicht den Eindruck, daß Kinder heute nicht mehr viel lesen. Wie wichtig ist Literatur für Kinder?
 
Neumann: Kinder lesen zu wenig, das wissen wir spätestens seit der PISA-Studie. Denn Lesen lernt man nur durch Lesen. Das wiederum tut man nur dann gerne, wenn man a) gute Geschichten findet und b) jemanden hat, der einem zeigt, wie man liest. Nicht nur zeigt, wie man Buchstaben entziffert und daraus Sinn erzeugt. Sondern auch einfach mal vorliest, neugierig macht auf Geschichten, sich mit Kindern auf das Sofa kuschelt und einen Nachmittag oder Abend lang vorliest. Und das geht auch ganz hervorragend in der Schule. Ich habe es geliebt, wenn meine Lehrerin vorgelesen hat.
Das Buch ist seit den 1960er Jahren nicht mehr das Leitmedium in unserer Gesellschaft. Damals wurde es durch das Fernsehen abgelöst. Und seit etwa 2010 ist das Internet das Leitmedium unserer Zeit. Das kann man bedauern oder nicht, aber man wird es in absehbarer Zeit nicht ändern können. Ich glaube auch nicht, daß digitale Angebote per se Kinder vom Lesen abhalten. So gibt es inzwischen medienübergreifende Angebote, die das Lesen fördern können. Übrigens ist „Urmel aus dem Eis“ ein gutes Beispiel dafür. Denn der Erfolg der Urmel-Reihe ist untrennbar verbunden mit der Augsburger Puppenkiste, die ihre deutschlandweite Popularität ausschließlich dem Fernsehen verdankt. Aber wichtig ist meines Erachtens immer auch die Frage, welche Vorbilder Erwachsene sind. Lesen Eltern, Erzieherinnen, Lehrer selbst oder predigen sie das eine und tun das andere? Kinder merken so etwas sofort.
 
Uwe Blass
 
Dr. Stefan Neumann arbeitet in der Fakultät für Geistes und Kulturwissenschaften der Bergischen Universität im Bereich Didaktik der deutschen Sprache und Literatur.
 
Redaktion: Frank Becker