Die Untaten Nazi-Deutschlands in Frankreich

Edmund de Waal – „Camondo – Eine Familiengeschichte in Briefen“

von Johannes Vesper

Die Untaten Nazi-Deutschlands
in Frankreich
 
Camondo - Briefroman von Edmund de Waal
 
Lacrima rerum“ heißt es auf der ersten Seite. Eine direkte Übersetzung ins Deutsche ist schwierig. Die Bemerkung stammt aus der Aeneis Vergils und betrifft die Tränen der Trauer nach allergrößtem Leid. In „Camondo“, dem neuen Roman von Edmund de Waal, geht es nicht um die legendäre Vernichtung Trojas, sondern um die Vernichtung jüdischen Lebens am Beispiel der Familie des Bankiers Moïses Camondo in Paris. Für die Rekonstruktion, für die Geschichte seines Lebens seien intensive Recherchen in Archiven notwendig gewesen, erläutert der Briefschreiber und Autor schon im ersten Satz des Romans. Moïse Camondo wurde im Zentrum Konstantinopels (Galata) geboren, in der Camondostraße Nr. 6, die nach seiner Familie benannt worden war. Die Familie war nach ihrer Vertreibung aus Spanien im 15. Jahrhundert über Venedig nach Konstantinopel gelangt. Die Familie des Ich-Erzählers/Briefschreibers stammt aus Odessa, zog von dort an den Ring in Wien und zuletzt in die Rue Monceau in Paris, in der sich seit 1935 das Musée Nissim Camondo befindet. Mit den Camondos bestanden familiäre Verbindungen. Die ihrerseits waren 1869 nach Paris gezogen und hatte sich auch in der Rue Monceau ein Stadthaus gebaut, welches Moïse nach dem Tod seines Vaters abreißen lassen und für sich daselbst ein Stadtpalais neu gebaut, welches von seinem Lebensstil zeugt. Ein Mann mit Niveau und Geschmack, der seine Bibliothek schätzte, Autos liebte, in seinem Haus 14 Bedienstete beschäftigte und eigens für das Dekantieren von Rotwein ein Zimmer eingerichtet hatte.
 
Das Haus hatte er für seinen Sohn namens Nissim gebaut, der 1917 als Flieger der französischen Luftwaffe abgeschossen und von seinem Vater in der Familiengruft auf dem Friedhof Montmartre begraben wurde. Den Verlust des Sohnes hat der Empfänger dieser Briefe nie verwunden. In Erinnerung an ihn richtete er das Palais ein, konnte sich seiner Melancholie nicht erwehren und beschloß bald, es dem französischen Staat als Musée Nissim Camondo zu übereignen. Das familiäre Stadtpalais solle als Museum peinlich genau erhalten werden als Ort der Trauer, der Bewahrung. Noch war ihm nicht klar, daß er 1935 sterben, seine Tochter mit ihrer Familie in Auschwitz vergast werden würde und die Familie damit ausgelöscht sein wird.
 
Nach seinem Tod findet die Übergabe an das Musée des Arts Decorativs in feierlichem Rahmen mit Minister statt. Ein aufwendiger Katalog wurde vorgelegt und eine Wandtafel mit Hinweisen auf den Spender und seinen Sohn enthüllt. So dankt Frankreich für großzügige Geschenke jüdischer Familien. Was ist noch zu der Zeit passiert? Le Monde vom 26.23.1936: Der Pakt zwischen Hitlerdeutschland und Japan wird geschlossen. Deutschland unterstützt Franco, zwei Schimpansen spielen Geige und Ziehharmonika. Wenig später wird Leon Blum Ministerpräsident Frankreichs und von jugendlichen Schlägern in seinem Auto angegriffen. In der Nationalversammlung bedauerte man, daß der Staat von einem „gerissenen Talmudisten“ regiert wurde und nicht von einem „Mann heimischer Scholle“. Auch in Frankreich hat Antisemitismus eine große Tradition (Affäre Dreyfuss, Schriften des Antisemiten Édouard Drumont).
 
Nachdem die Deutschen am 11. Juni 1940 kampflos in Paris einmarschiert waren und das Vichy-Regime sich etabliert hatte, wurde sogleich ein Register der Juden in Paris erstellt. Pétain verschärft das Statut des Juifs noch und die Juden werden aus der Armee, der Presse und der Verwaltung ausgeschlossen. Um es kurz zu machen: Auch die jüdische Familie von Moïse Camondo, seine Tochter, deren Mann und ihre beiden Kinder, wird in Auschwitz umgebracht. Renoir hatte ein Porträt ihrer Mutter gemalt, welches als „La petite Irene“ berühmt geworden ist. Sie überlebte als einzige aus der Familie den Krieg. Es landete in der Privatsammlung Görings in Karinhall. Heute hängt es in der weltbekannten Sammlung des Waffenhändlers Bührle/Zürich.
 
Bei der Recherche zu diesem Buch wurde dem Autor klar, daß neben den Camondos und den Ephrussis die Besitzer aller Häuser in dieser Straße deportiert wurden und heute keine Nachfahren dort zu finden sind. In einem Interview (SZ 28.09.2021) äußerte er seine Wut beim Schreiben des bewegenden Romans. In Paris erinnere nichts daran, „was hier geschehen ist, wer einst hier lebte.“ Anderswo werde zumindest mit Stolpersteinen an die vernichteten Existenzen erinnert. „Camondo“ ist die zweite Arbeit des Autors zum Thema. In „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ hat er die erschütternde Geschichte des jüdischen Teils seiner eigenen Familie erzählt, der Familie Ephrussi, die in Wien enteignet und dann vertrieben wurde. „Camondo“ ist ein gut recherchierter Briefroman über die Wirkungen der Untaten Nazi-Deutschlands in Frankreich. Mit 31 teils farbigen Abbildungen werden Leben und Lebensverhältnisse der Camondos illustriert.
 
Edmund de Waal – „Camondo – Eine Familiengeschichte in Briefen“
Aus dem Englischen von Brigitte Hilzensauer. Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel Letters to Camondo bei Chatto&Windus, London.
© 2021 Paul Zsolnay Verlag Wien / Edmund de Waal, 192 Seiten, gebunden, 31 teils farbige Abbildungen - ISBN 978-3-552-07257-2
26,.- €

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