Was ist das Ziel unserer irdischen Wanderung?

von Egon Friedell

Egon Friedell - Foto: Edith Barakovich
Was ist das Ziel unserer irdischen Wanderung?
 
Sind wir wirklich nur als Hanswürste und Hofnarren, Tapezierer und Vergnügungsarrangeure in die Welt gesetzt? Wir berühren hier einen großen, ja vielleicht den größten Zwiespalt im Dasein der Erdenbewohner. Er besteht in der furchtbar aufwühlenden Frage: was ist der Sinn des Lebens, Schönheit oder Güte? Es liegt in der Natur dieser beiden Mächte, daß sie sich fast immer im Kampfe miteinander beļ¬nden. Die Schönheit will sich und immer nur sich; die Güte will niemals sich selbst und hat ihr Ziel immer im Nicht-Ich. Schönheit ist Form und nur Form; Güte ist Inhalt und nichts als Inhalt. Schönheit wendet sich an die Sinne, Güte an die Seele. Ist es nicht die beglückendste und adeligste Aufgabe des Menschen, die Welt immer reicher, begehrenswerter und kostbarer zu machen, mit immer bestrickenderem Geist und Glanz zu füllen? Oder ist es nicht vielleicht doch das Beste, Natürlichste und Gottgefälligste, einfach ein guter Mensch zu sein, die anderen bei der Hand zu nehmen, ihnen zu dienen und zu nützen? Was ist das Ziel unserer irdischen Wanderung? Die schrankenlose Bejahung dieser Welt in all ihrer Kraft und Pracht? Aber das vermögen wir nur auf Kosten unserer Reinheit. Oder die Rettung der uns von Gott anvertrauten Seele, ihre Läuterung und Entweltlichung? Aber dann haben wir vielleicht nicht voll gelebt. Wer hat recht: der Künstler oder der Heilige, der Schöpfer oder der Überwinder?
 

Egon Friedell