„In der Bar zum Krokodil“

Joseph in Ägypten: Ein Chanson aus dem Jahr 1927

von Heinz Rölleke

Prof. Dr. Heinz Rölleke - Foto © Frank Becker
„In der Bar zum Krokodil“
 
Joseph in Ägypten: Ein Chanson aus dem Jahr 1927
 
Von Heinz Rölleke
 
Die Geschichte vom Sohn des Stammvaters Jakob, die im 1. Buch Mose des Alten Testaments (Genesis, Kapitel 37-50) steht, gehört zweifellos zu den dichterischen Hochleistungen unter den biblischen Erzählungen und blieb auch deshalb Jahrhunderte hindurch besonders populär. Höhepunkte der Rezeption sind die Szenen der Träume Josephs, sein von den Brüdern verursachter Sturz in eine Zisterne, der Verkauf als Sklave ins Haus des Potiphar, die erfolgreiche Abwehr der Verführung durch Potiphars Weib, seine Traumdeutungen für den ägyptischen Pharao und sein Aufstieg zum Vizekönig, der schließlich seinen Brüdern verzeiht. Die markanten Szenen der Geschichte haben die Künstler aller Zeiten zu immer neuen Schöpfungen inspiriert. Seit dem 13. Jahrhundert entstanden in Europa Josephsspiele, von denen allein aus dem 16. Jahrhundert 25 Texte überliefert sind. Die bekannten deutschen Barockdichter behandelten den interessanten Stoff, darunter Grimmelshausen (1667), von Zesen (1670), Anselm von Ziegler (1700); 1914 wurde Hugo von Hofmannsthals „Josephslegende“ uraufgeführt, und noch 13 Jahre später ist das Sujet so bekannt, daß es nur einiger Anspielungen in einem berühmten Chanson bedurfte, um es wieder ins Gedächtnis zu rufen. Thomas Manns gewaltige und mit bewundernswerten Sachkenntnissen zwischen 1933 und 1943 verfaßte Romantetralogie „Joseph und seine Brüder“ hält die Geschichte bis heute lebendig. Von den zahlreichen musikalischen Rezeptionen waren und blieben Händels Oratorium (1638) und Méhuls Oper (1807), die beide den Titel „Joseph“ führen, besonders bekannt. Rembrandts Radierung (1638) ist eine der bedeutendsten bildnerischen Adaptionen.
 
Im Jahr 1927 entstand die Erstfassung eines Chansontextes von Fritz Löhner-Beda mit der viermal als Refrain wiederholten und dadurch sprichwörtlich gewordenen Titelzeile „In der Bar zum Krokodil“, der in der Vertonung durch Willy Engel-Berger und vor allem durch die geniale, flotte und nicht ironiefreie Interpretation der Comedian Harmonists im Berlin der Zwanziger Jahre zu einem Ohrwurm avancierte, der noch heute vielen Hörern bekannt ist. Es geht nicht um die Geschichte Josephs in Ägypten, der hier nur als Stichwortgeber fungiert, sondern um die Vergegenwärtigung einer sinnlichen, leicht frivolen Atmosphäre im schon ein wenig dekadenten alten Ägypten, wie man sie in jenen Jahren auch in Berlin zu spüren glaubte. Die beschwingte Vertonung nimmt die geschilderten Geschehnisse erkennbar leicht und entspricht genau der im Text vorherrschenden Tendenz, der einige Kenntnis der biblischen Geschichte beim Hörer voraussetzt, obwohl nur deren Umfeld berufen wird. Es dürften einige Begriffe und Anspielungen heute von vielen Rezipienten nicht mehr ohne weiteres verstanden werden; dem versucht die folgende Kommentierung abzuhelfen. Der Text wird hier stark gekürzt in der Erstfassung wiedergegeben; aus einer zweiten, leicht abweichenden Fassung werden einige Einzelheiten in Kursivschrift annotiert.
 
            In der Bar zum Krokodil
           
            Das war die Frau von Potiphar,
            die ungemein erfahren war
            in allen Liebessachen, so Sachen, so Sachen.
            Jedoch ihr Gatte, au contrair,
            der war schon alt und konnt' nicht mehr,
            ti-ri-li, ti-ri-la, ti-ri-li ti-ri-la,
            die schöne Frau bewachen, bewachen, bewachen.
            Drum pfiff sie auf die Sittsamkeit
            Und machte sich 'nen Schlitz ins Kleid
            und fuhr hinauf nach Theben,
            um dort sich auszuleben.
            Denn Theben war für Memphis
            das, was zur Wurst der Senf ist. / das, was Lausanne für Genf ist /
            In der Bar zum Krokodil
            am Nil, am Nil, am Nil,
            verkehrten ganz incognito
            Der Josef und der Pharao.
 
Kenntnis des mißglückten Verführungsversuchs durch die nymphomanische Gattin des Potiphars, des Dienstherren Josephs, aus der biblischen Geschichte wird vorausgesetzt. Während sie weiterhin „in allen Liebessachen“ aktiv bleibt, wird die Erwartung des Hörers, was den Hausherrn hinsichtlich seines entsprechenden Verhaltens betrifft, durch ein Enjambement (der Satz wird nach „und konnt' nicht mehr“ unterbrochen und erst in der übernächsten Zeile weiter und zu Ende geführt) sowie die Einschaltung des vielsagenden onomatopoetischen „Tirili“ raffiniert getäuscht: Weil er „schon alt“ war, konnte er dieses Tirili nicht mehr mitspielen und noch nicht einmal seine Gattin davon zurückhalten. Entsprechend wird er im Chansontext konsequent „der Gatte der Frau Potiphar“ genannt. In der freizügigen Bar in Theben agierten regelmäßig aber nicht nur Frau Potiphar, sondern auch der hier eher beiläufig erwähnte Joseph und der Pharao („König Ramses“), dessen Gunst jener durch die Traumdeutungen gewonnen hatte. Man amüsierte sich „jede Nacht“ in der etwas anrüchigen Bar mit der Geliebten „dreiviertel nackt, im Shimmy und Zweivierteltakt“: „Es traf mit der Geliebten sich / des Abends ganz Ägypten sich.“ Damit ist eine eindeutige Übertragung der freizügigen altägyptischer Gewohnheiten auf das Berlin der Zwanziger Jahre gegeben, denn gerade in dieser Zeit war der in den USA entstandene Shimmy-Tanz im Zweivierteltakt (dessen Bezeichnung bezeichnenderweise aus dem Afrikanischen mit der Bedeutung 'Geschlechtsverkehr' übernommen ist) in Europa importiert worden und verdrängte zeitweise den seit 1910 weitverbreiteten Foxtrott. Der im Chanson berufene „Zweivierteltakt“ ist für die meisten Liedvorträge der Comedian Harmonists charakteristisch und begegnet so natürlich auch im Lied vom Shimmy.
 
In der Zweitfassung wird das als etwas leichtlebig geltende Lausanne in der französischen Schweiz mit dem seit Calvins Zeiten sprichwörtlich prüden Genf verglichen. Diese Städte übernehmen die Rollen, die hier ohne weiteres den altägyptischen Städten Theben und Memphis zugeschrieben werden, die allerdings in der biblischen Josephsgeschichte nicht genannt sind.
 
            Dem Gatten der Frau Potiphar,
            dem wurde bald die Chose klar.
            Er sprach zu König Ramses, zu Ramses, zu Ramses:
            „Ich weiß, was meine Gattin macht;
            Sie fährt nach Theben jede Nacht,
            ti-ri-li, ti-ri-la, ti-ri-li, ti-ri-la,
            ja Majestät, da ham'Ses, da ham'Ses, da ham'Ses!“
            Da sprach zu ihm der Pharao:
            „Dann machen wir es ebenso!
            Sie sehn wie fad es hier ist - / wie doof /
            im Restaurant Osiris!
            Drum gehn als Philosophen
            auch wir nach Theben schwofen!“
 
Die ein wenig stillose Ersetzung des beim Vortrag akustisch kaum deutlich wahrnehmbaren Adjektivs „fad“ (öde, langweilig) durch „doof“ in der Zweitfassung sollte wohl der Verdeutlichung dienen. Der Plan Pharaos, sich in Theben incognito als „Philosophen“ auszugeben, dürfte durch eine (bewußte?) Verwechslung des ägyptischen und des griechischen Theben entstanden sein, denn letzteres galt als Heimat des berühmten Philosophen Krates (4. Jahrhundert v. Chr.) und der kynischen Schule. Der Name „Osiris“ im drögen ägyptischen Memphis ist wohl nicht zufällig nach dem berühmten Totengott gewählt.
 
In der Schlußstrophe eskaliert die Geschichte in einem unerwarteten Finale. Pharao und Potiphar haben sich nach Theben aufgemacht und speisen zunächst in der Bar:
 
            Mit Ramses saß heut in der Bar
            der Gatte der Frau Potiphar
            und aß von einem Feigenblatt
            gehackte Mumie mit Spinat.
 
Hernach fällt ihr Blick auf die freizügige Damenwelt in der Bar.
 
            Ein schlankes Mädchen, schwarz maskiert,
            das hat die beiden fasziniert.
            Sie kauften ihr Narzissen, Narzissen, Narzissen.
            Der Gatte der Frau Potiphar,
            der schneller als der Ramses war -
            ti-ri-li, ti-ri-la, ti-ri-li, ti-ri-la,
            der wollt' sie gerne küssen, ja küssen. / und spuckte auf den Boden /
            Als er zu Ramses kam zurück,
            da senkte traurig er den Blick
            und sah verstört zu Boden.
            Der Ramses fragt: „Wieso denn?“
            Worauf die Antwort schallte:
            „Das Weib war meine Alte!“
 
Die Zweitfassung ist am Ende vergröbernd aufgeschwellt und trifft nicht mehr recht den Ton und den Clou des Ganzen, in dem zuletzt ein altes und weitverbreitetes Bühnenmotiv erscheint: Ein Ehemann steht vor einem Fehltritt mit einer scheinbar anderen und entdeckt unter deren Verkleidung plötzlich seine eigene Frau.
 
Im Schlußakt der Oper „Figaros Hochzeit“ von Mozart (1786) erkennt der Graf seine verkleidete Ehefrau nicht; er hält sie vielmehr für die von ihm begehrte Susanna und verabredet ein Rendezvous mit ihr. Die Entdeckung der wahren Zusammenhänge beschämt ihn zutiefst, und er muß die Gattin um Vergebung bitten. Ähnlich ergeht es Eisenstein in der berühmten Strauss-Operette „Die Fledermaus“ (1874) mit seiner als ungarische Gräfin verkleideten Frau, die er nicht erkennt und mit der er beim Maskenball zu heftig geflirtet hat. In abgewandelter Form begegnet uns das Motiv im dritten Akt der Verdi-Oper „Ein Maskenball“ (1859). Renato rettet seiner eigenen tief verschleierten und zunächst unerkannten Gattin nach deren nächtlichen Rendezvous mit seinem Freund, ihrem Liebhaber Riccardo, das Leben, ehe er zornentbrannt seinen Irrtum erkennt und sich schrecklich an den beiden unschuldig gebliebenen rächt.
 
Im Chanson von der Krokodil-Bar ist die Junktur ähnlich; sie bleibt aber weit von der Operntragik entfernt und zeigt eher groteske Züge. Hier haben schließlich alle Figuren Dreck am Stecken, der aber eher Heiterkeit als Tadel hervorruft. Im Swinging Berlin der Zwanziger Jahre tanzte man auch in dieser Hinsicht fröhlich auf dem Vulkan. Die Abwandlung der biblischen Josephsgeschichte findet auf einem bemerkenswert hohen, so geistvollen wie komischen Niveau ihren Platz unter den zahlreichen literarischen Zeugnissen dieser immer etwas gewaltsam fröhlich, hier jedenfalls unaufdringlich und mit hintergründigem Humor gezeichneten dekadenten Untergangsstimmung.
 
 
© Heinz Rölleke für die Musenblätter 2021