Reuben

Claire Fuller – „Unsere unendlichen Tage“

von Frank Becker

Reuben
 
Wahn und Wirklichkeit, Traum und Trauma
 
Ich legte die Lupe wieder in die Schublade und setzte mich zu meiner eigenen Überraschung auf die Klavierbank. Ich machte den Deckel auf - die ordentliche Reihe der weißen Tasten, wie blitzende Zähne, schlug mich sofort in ihren Bann - und legte meine rechte Hand auf die Stelle, so glatt, so kühl, wo die Hand meines Vaters gelegen hatte. Ich lehnte mich nach links und streckte den Arm über den Flügel, und in diesem Moment regte sich etwas in mir, ein nervöses Flattern, tief in meinem Magen. Ich blickte auf das Foto in meiner Hand. Mein Vater erwiderte meinen Blick und wirkte dabei so unschuldig, selbst damals schon, daß er einfach schuldig gewesen sein muß. Ich ging wieder zum Sekretär, nahm die Schere aus dem Behälter mit den Stiften und schnitt das Gesicht meines Vaters aus dem Foto. (…) und während ich die Augen fest auf seinen Kopf gerichtet hielt, fuhr ich mir mit der Schere unter das Kleid und durchschnitt den seidigen Stoff zwischen den Körbchen meines Büstenhalters. Die Körbchen, die gestört und gescheuert hatten, fielen von mir ab, und mein Körper war frei, wie er es immer gewesen war. Ich legte den Kopf meines Vaters unter meine rechte Brust, wo ihn die warme Haut festhielt. Ich wußte, wenn er dort haften blieb, würde alles wieder gut werden. Und ich durfte mich erinnern.
 
James Hillcoat gehört einer etwas spinnerten Prepper-Gruppe an, die sich North London Retreaters nennt und sich in den 1970ern in endlosen Diskussionen mit dem Gedanken der Überlebens-Strategie nach der zu erwartenden Weltkatastrophe befaßt. Er ist mit der gefeierten Pianistin Ute Bischoff verheiratet und gemeinsam haben sie eine Tochter, Peggy.
Hillcoats Marotte weitet sich aus, er baut im Haus einen Atombunker, legt Vorräte und Listen über Notwendiges an, konditioniert seine 7jährige Tochter und überwirft sich schließlich mit seiner Frau. Als Peggy 8 Jahre alt und Ute auf einer Konzerttournee im Ausland ist, läßt Hillcoat alles zurück, nimmt sein Kind bei der Hand und fährt unter dem Vorwand einer Ferienreise mit ihr nach Deutschland, um den Ort zu finden, wo man vermeintlich sicher und weltabgeschieden über-leben kann. Spätstens hier fühlt der Leser die sich überschlagende Manie, die den Mann antreibt und man spürt den Irrsinn seines Planes. Nichts ist an dem erträumten Ort im Bayrischen Wald so, wie er es sich vorgestellt hat, es fehlt an allem, aber er bricht alle Brücken hinter sich und dem Kind ab, macht es nach einem gewaltigen Gewitter glauben, daß nun die übrige Welt verschwunden sei uns sie beiden die letzten, einzigen Menschen auf Erden seien.
Neun Jahre werden die beiden in der Wildnis sein, neun Jahre, in denen es nun wirklich und buchstäblich ums Überleben gehen wird, neun Jahre, in denen aus dem Kind in Entbehrung und Dreck ein junges Mädchen wird.
 
Man bekommt durch die zwei Erzählebenen, nämlich den in gewissen Zeitsprüngen erzählten Ablauf der neun Jahre im Wald und das Jetzt nach der Rückkehr des Mädchens in die wirkliche Welt als Leser einen gewissen Informationsvorsprung, weiß man doch, daß sie überlebt hat und schließlich wieder in London, im Haus der Mutter ist. Doch Claire Fuller hat ihren Roman so raffiniert angelegt, daß man zwar Wahrheiten vermuten, Entwicklungen denken, doch nie Gewißheit haben kann. Man verliert mit Peggy, die ihre Geschichte aus ihrer Erinnerung, ihrer Perspektive, die Struktur ihrer Isolation in klaren, nachvollziehbaren Worten erzählt, völlig die Zeit, die ihr gestohlen wird - bis als Zäsur nach ein paar Jahren in der Einsamkeit ein geheimnisvoller Dritter in der Geschichte auftaucht: Reuben. Während wir die sich zum Wahnsinn entwickelnde Paranoia des Vaters beobachten können und nach der ersten Menstruation das Bewußtwerden von Peggy erleben, die von ihrem Vater den Namen Punzel bekommen hat (nicht das einzige Märchenmotiv, das Claire Fuller einflicht), erfahren wir im Widerspiel von Wahn und Wirklichkeit, Traum und Trauma beklemmend Stück um Stück, was wir längst ahnen mußten.
 
Und am Ende tritt eine so dramatische Wendung ein, die einem nicht anderes übrig läßt, als das Buch nicht wegzulegen, sondern es mit neuem Blick gleich noch einmal ganz von vorne zu lesen. Denn in diesem Buch ist ein zweites versteckt. Claire Fullers brillanter Erstling „Unsere unendlichen Tage“ gehört zu den ganz seltenen, besonderen Romanen. In seiner Stille, im Unausgesprochenen, in Streiflichtern liegt seine besondere Sprengkraft, sein Schrecken - ein Solitär, vielleicht zu vergleichen mit Scott Bradfields „Die Leute, die sie vorübergehen sahen“. Sehr zu empfehlen. Und natürlich bekommt „Unsere unendlichen Tage“ unser Prädikat, den Musenkuß. Unser Buch des Monats.
 
Claire Fuller – „Unsere unendlichen Tage“
Roman - Aus dem Englischen von Susanne Höbel
© 2021 Piper Verlag, 319 Seiten, gebunden, Lesebändchen – ISBN: 978-3-492-05828-5
22,- €
 
Weitere Informationen: www.piper.de